Rezension: Die junge Braut | Alessandro Baricco



Eine Familie in einem alten Gutshaus: Da ist der Vater, der gar nicht der Vater ist. Da ist die bizarr schöne Mutter. Der Onkel, der ununterbrochen schläft. Die hinkende Tochter. Und eines Tages steht die junge Braut in der Tür, die sich dem Sohn versprochen hat – der unauffindbar ist. Sie bleibt bei der Familie und lernt, was es heißt, das eigene Schicksal zu bestimmen. Als sie genau darin die Katastrophe erkennt, rettet sie sich in die Liebe zu dem abwesenden Sohn und in das stoische Warten auf ihn. Doch eines Tages muss sie einsehen, dass sie nicht mehr warten kann. Alessandro Baricco führt uns in eine Welt, die zusammengesetzt ist aus Schicksalen, Geheimnissen, Erwartungen. Es ist ein Experiment: Was, wenn alles immer nur ein und dieselbe Geschichte ist, aus wechselnden Perspektiven erzählt, von verschiedenen Sehnsüchten geprägt, von unterschiedlichen Menschen gelebt? [© Text und Cover: Hoffmann und Campe Verlag]

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Nachdem mich die Titel „Mr. Gwyn" und „Smith & Wesson" von Alessandro Baricco schon begeistern konnten, war für mich klar, dass ich auch sein neuestes Werk lesen werde. Hier geht es um ein Mädchen, das mit fünfzehn Jahren dem Sohn einer wohlhabenden Industriellenfamilie versprochen wurde. Die beiden hatten sich damals kennen- und schätzen gelernt, bevor sie mit ihrer Familie nach Argentinien ausgewandert ist. Pünktlich an ihrem achtzehnten Geburtstag steht sie nun wie vereinbart an der Tür des Anwesens ihres Verlobten und der seinen, die davon allerdings überrascht werden. Nach der langen Zeit kann man ja mal einen Termin vergessen. Und noch schlimmer: der Sohn befindet sich auf Geschäftsreise in England. Sie nehmen die Schwiegertochter in spe natürlich trotzdem auf in der Annahme, dass der Sohn doch bald zurück sein werde. So lernt sie die reichlich extravaganten Mitglieder seiner Familie näher kennen.



Interessant, dass Baricco bei den wesentlichen Figuren auf Namen verzichtet. Es gibt den Vater, die Mutter, die Tochter, den Sohn und die junge Braut, die allesamt nicht anders bezeichnet werden. Ich finde das ja tatsächlich recht praktisch, weiß ich doch gleich, von wem die Rede ist, ohne mir Namen merken zu müssen. Trotzdem glänzt der Autor mit seiner unvergleichlich gekonnten Art der Charakterisierung: wir erhalten Einblick in ihre Seelen, die alle von komplexer Struktur sind. Ihre Leidenschaften leben sie sinnlich und intensiv aus. Ihr Zusammenspiel erinnert mich aufgrund der übersichtlichen Personenzahl an ein Kammerspiel. Die Tragik der Geschichte könnte allerdings auch einer Oper entsprungen sein. Jeder scheint dunkle Geheimnisse zu haben, die Stück für Stück aufgedeckt werden wollen. Garniert wird das mit einer Prise Humor.

„Er stand von seinem Sessel auf und blieb eine Weile stehen, um abzuwarten, bis sein Inneres sich aus irgendeinem mechanischen Grund wieder ordnete, wie es gewöhnlich bei gewissen Verstimmungen geschah, die ihn vor allem am Nachmittag plagten. Das Einzige, was er erreichte, war ein kontrollierbarer Drang zu furzen." (S. 75)

Für die Geschichte der jungen Braut installiert Baricco einen namenlosen Autor, der die Ereignisse heute, rund einhundert Jahre danach, festhält. Er nutzt das, um über einiges, was einen Schriftsteller umtreibt, zu philosophieren. Diese Passagen fand ich als Nichtschreibender nicht so spannend, konnte sie aber aufgrund ihres geringen Umfangs vernachlässigen. Bei den fließenden Übergängen musste ich dabei schon aufpassen, um mitzubekommen, wer gerade erzählt, wenn die Perspektive von der dritten in die erste Person wechselt. 

Restlos überzeugt hat mich wieder Alessandro Bariccos Sprachstil. Der ist so gewandt und präzise, dass die Figuren in meinem Kopf ganz schnell lebendig werden. Das ist auch bei diesem Buch wieder ein großes Vergnügen.

Persönliches Fazit

„Die junge Braut" hat mich mit seinen extravaganten und leidenschaftlichen Figuren und mit seiner Dramaturgie beeindruckt. Vor allem hat mir Bariccos herrlicher Sprachstil wieder einen hohen Lesegenuss beschert.

© Rezension: 2017, Marcus Kufner


Die junge Braut | Alessandro Baricco | Hoffmann und Campe Verlag
2017, gebunden, 208 Seiten, ISBN: 9783455405781
Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki


[marcus]

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