Rezension: Das Leben des Vernon Subutex | Virginie Despentes



Wer ist Vernon Subutex? Eine urbane Legende, der letzte Zeuge einer Welt von Sex, Drugs und Rock'n'Roll. Gerade noch ein Plattenladenbesitzer mit Erfolg und besten Kontakten, steht er jetzt auf der Straße und quartiert sich mithilfe von Facebook und einer Notlüge bei alten Freunden und Weggefährten ein – und er beginnt eine Reise zu den Abgründen einer zutiefst verunsicherten Gesellschaft. Es entsteht ein Sittengemälde, das kein gesellschaftliches Thema unberührt lässt, die Islamismusdebatte ebenso wenig wie den Aufstieg der Rechten. [© Text und Cover: Verlag Kiepenheuer & Witsch]

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Es ist sicher nicht einfach sich beruflich völlig neu auszurichten, wenn man schon auf die fünfzig zugeht. So geht es zumindest Vernon, für den sein Plattenladen seine Existenz bedeutete. Seine Versuche, anderweitig Fuß zu fassen, sind nur halbherzig, und so ist es nur eine Frage der Zeit, bis ihm das Geld ausgeht. Er hat nicht die Energie, sich gegen die Pleite und damit auch gegen den Rauswurf aus der Mietwohnung zu wehren.

„Im Angesicht der Katastrophe hält sich Vernon an einen Grundsatz: so tun, als ob nichts wäre. Er hat zugesehen, wie alles den Bach runterging, erst war es wie in Zeitlupe, dann legte der Absturz an Tempo zu. Aber Vernon hat weder die Gleichgültigkeit noch die Eleganz aufgegeben." (S. 7)



Wenigstens hat er durch seinen Laden jede Menge Bekannte und Freunde, auf die er sich jetzt besinnt. Die meisten sind gerne bereit, ihm für ein paar Tage eine Übernachtungsmöglichkeit anzubieten. Es ist tatsächlich eine ziemlich große Zahl von Leuten, die wir auf diesem Weg kennen lernen. Mit ihnen erhalten wir quasi einen Querschnitt durch die französische Gesellschaft. Wir treffen rechte Schläger, ein Mädchen, das zum Islam konvertiert ist, ehemalige Pornodarstellerinnen, Obdachlose, einen stinkreichen Wertpapierhändler, Filmemacher und viele mehr. Das spannende daran ist, dass die Autorin uns mitnimmt in die Gedankenwelt dieser Protagonisten, und das auf schonungslose Weise. Da gibt es so einiges, was die Grenzen der Political Correctness deutlich hinter sich lässt. Sozusagen „dem Volk auf Maul geschaut". Das ist schon schmerzhaft, wenn es beispielsweise rassistisch wird, verdeutlicht aber ausgezeichnet, was tatsächlich in den Köpfen mancher Zeitgenossen vor sich geht. Dass Virginie Despentes die Charaktere dabei nicht überzeichnet, macht sie enorm authentisch.

„Sie sagen, integriert euch, und zu denen, die es versuchen, sagen sie, ihr seht doch, dass ihr nicht zu uns gehört." (S. 258)





Zu dem Roman könnte man eine wunderbare Playlist kreieren, denn die Personen werden meistens über ihren Musikgeschmack definiert. Ich hätte die Bandnamen mitschreiben sollen, die Atmosphäre wäre bestimmt noch intensiver, wenn die passende Musik nebenher läuft. Es ist außerdem spürbar, dass wir uns in Paris befinden. Eine solche Vielfalt verschiedener Menschen findet sich nicht an vielen Orten. Auch wenn das Buch die französische Gesellschaft im Blick hat, gibt es so einiges, was auch bei uns aktuell ist, wie das Erstarken der Rechten oder die Integration von Flüchtlingen. Es gibt aber auch viele Emotionen zwischen den Protagonisten, Leidenschaften und Enttäuschungen, Erfolg und Unglück, einfach alles, was das Leben ausmacht. Virginie Despentes erzählt das mit einer hohen sprachlichen Präzision, scharfsinnig, entlarvend und ohne Schnörkel. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund. Da ist es für mich eine gute Nachricht, dass Vernon Subutex' Geschichte mit einem zweiten Buch weiter gehen wird.

Persönliches Fazit

Virginie Despentes hält uns ungeschminkt den Spiegel vor, ohne dabei den Zeigefinger zu heben. Ihren erfrischend frechen und schonungslosen Schreibstil fand ich sehr ansprechend. „Das Leben des Vernon Subutex" ist eine scharfsinnige und sehr lesenswerte Reflexion der französischen Gesellschaft.

© Rezension: 2017, Marcus Kufner

Das Leben des Vernon Subutex | Virginie Despentes | Verlag Kiepenheuer & Witsch
2017, gebunden, 400 Seiten, ISBN: 9783462048827
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz


[marcus]

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