Expeditionen in Eiseskälte.
Rebecca Hunts zweiter Roman ist Abenteuergeschichte, spannender Thriller und psychologisches Drama in einem. Die Insel Everland wird von zwei Antarktisexpeditionen erforscht, zwischen denen hundert Jahre liegen. Doch die Einsamkeit, die harten Wetterbedingungen und die feindseligen Kräfte der Natur sind heute wie damals bestimmend, und bei beiden Expeditionen zeigt sich: Die Antarktis enthüllt den wahren Charakter der Menschen, die sich ihr aussetzen. [© Text und Cover:
Luchterhand Verlag]
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Ich frage mich manchmal schon, was Menschen veranlasst, so unwirtliche Regionen wie die Antarktis zu erforschen. Wieso tut man sich eisige Kälte bis -30°C und Schneestürme an? Es ist die Faszination des Unentdeckten und auch die Aussicht auf Ruhm und Ehre, die die Mannschaft der „Kismet" antreibt. Im Jahr 1913 machen sich drei von ihnen mit dem Beiboot zur (fiktiven) Insel Everland auf, die zuvor noch kein Mensch betreten hat. Schon auf der Anfahrt geraten sie in einen Sturm, der ihnen alles abverlangt. Die Expedition scheint unter keinem guten Stern zu stehen.
„Everland war still, leblos und auf brutale Weise unspektakulär. Mehr als trostlos, es war hässlich." (S. 34)
Dass die Unternehmung 1913 dramatisch endet, ist den Forschern im Jahr 2012 natürlich bekannt. Auch sie schicken ein dreiköpfiges Team nach Everland, um Daten für die Klima- und Umweltforschung zu sammeln. Es ist ihnen aber auch bewusst, dass sie die ersten sind, die seit damals die Insel betreten. Da gehen die Gedanken schon hin und wieder mal zu ihren Vorgängern und deren Schicksal.
„Im Lauf der Zeit versteinern selbst die emotionalen Auswirkungen einer Tragödie. Man kann die Ungerechtigkeit und Traurigkeit zwar noch würdigen, aber nicht mehr empfinden." (S. 117)
Knapp 100 Jahre liegen zwischen den beiden Expeditionen. Die Unterschiede sind vor allem im technischen Bereich extrem. Während die erste Gruppe jahrelang mit dem Schiff unterwegs war, wird die zweite mit dem Wasserflugzeug zur Insel gebracht. Die sind auch ständig per Funk mit der Zentrale verbunden, während die Männer 1913 völlig auf sich allein gestellt waren. Die hatten auch keine Quads zur Fortbewegung, sie mussten ihre Schlitten noch selber ziehen.
Beim wichtigsten Faktor unterscheiden die beiden Trupps sich aber nicht: Um in einem so schwierigen Umfeld die gestellten Aufgaben zu bewältigen, müssen die Beteiligten zusammenarbeiten. Aus diese Symbiose legt Rebecca Hunt den Fokus ihres Romans. In jedem der beiden Dreierteams ist schnell eine Schwachstelle ausgemacht. Jetzt sind die anderen beiden dazu gezwungen, diese mitzuziehen. Was werden sie machen, wenn es hart auf hart kommt? Obsiegt die kameradschaftliche Verpflichtung oder der eigene Ehrgeiz? Die psychologische Komponente dieser extremen Situation ist spannend und sehr gut herausgearbeitet.
Rebecca Hunt wechselt zwischen den Jahren 1913 und 2012. Wenn über zwei Ereignisse gleichzeitig erzählt wird, besteht die Gefahr, dass beide langatmig werden. Das habe ich bei „Everland" nicht so empfunden. In der neueren Geschichte gibt es hin und wieder Andeutungen bezüglich der ersten Expedition, die die Spannung erhöhen. Was ist den drei Männern damals wirklich passiert? Stimmen die Berichte des Kapitäns der Kismet überhaupt? Wie weit liegen Legende und Wahrheit auseinander? Die Autorin hat mit diesen Fragen Fäden ausgelegt, die sehr glaubhaft zusammenlaufen.
Persönliches Fazit
„Everland" ist ein Abenteuerroman, der den Fokus auf die besondere psychische Belastung von Teams in extrem unwirtlicher Situation legt. Die Romantisierung von Legenden wird durch den hohen Realitätsgrad aufgelöst. Damit konnte mich die Erzählung über die beiden Expeditionen sehr fesseln.
© Rezension: 2017, Marcus Kufner
Everland | Rebecca Hunt | Luchterhand Verlag
2017, gebunden, 416 Seiten, ISBN: 9783630874630
Aus dem Englischen von pociao
[marcus]
Labels: Beitrag von Marcus, Rezension, Roman