Des Menschen Wölfin
Sie beobachtet ihre Opfer. Sie plant ihre Morde. Nichts will sie dem Zufall überlassen. Sie schlägt den Weg der Gewalt jedoch nicht ohne Grund ein. Ihr Leben lang bemühte sie sich um ein normales Leben. Doch die Hülle der Normalität umschloss eine tiefe Verzweiflung, die sie zu verbergen wusste. Bis zu einem nebligen Donnerstag im November. Dem Tag, an dem sie beschließt, eine Mörderin zu werden. Sie will die Dämonen vernichten. Sie will Rache. Sie empfindet kein Mitleid. Sie sollen leiden. Genau wie sie. [Text & Cover: ©
Heyne Encore]
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Als "Psychogramm einer Mörderin" wird der neue Roman von Marina Heib von Rezensenten bezeichnet. Aber was bedeutet das genau? In erster Linie bedeutet es ein Ungleichgewicht zwischen Figurenzeichnung und der Handlung des Romans. Letztere gestaltet sich weitgehend schnörkellos und ist rasch erzählt: Eine Serienmörderin zieht eine blutige Spur auf dem Weg der Selbsterkenntnis. Die Handlung dient also als Aufhänger für den Entwurf einer kontroversiellen Persönlichkeit.
Die namenlose Ich-Erzählerin entblättert sich vor dem Leser zwiebelschalenartig, in der Hoffnung, in ihrem Kern so etwas wie eine unverwechselbares Ich vorzufinden. Zunächst präsentiert sie sich in ihrer Kindheit als noch ungeformte Persönlichkeit, die anhand ihrer umfangreichen Bibliothek Identitäten wie Winnetou oder Pippi Langstrumpf ausprobiert. Sie nutzt "Bücher als Lianen" (S. 21) mit denen sie sich durch fremde Leben schwingt, bis eine traumatische Erfahrung sie aus der Spur und in eine neue Laufbahn wirft: die der Mörderin.
"Das, was Ich glaubte zu sein, aber nie gewesen war, verging." (S. 17)
Wie eine Schlange häutet sie sich, wirft alles von sich, was sie charakterisiert. Das "Ich" in dieser Passage der Transformation ist großgeschrieben und unterstreicht somit die Ambivalenz aus erster und dritter Person. Die Erzählerin nimmt sich zugleich von außen und von innen wahr, zugleich als Subjekt und Objekt. Die Depersonalisierung ist so umfangreich wie irgend möglich, reicht bis zur Selbstverleugnung: "Ich war noch nie diejenige, die ich war." (S. 25), erinnert an Arthur Rimbauds Zitat "Ich ist ein anderer". Am Abend des sechsten Tages ist die Transformation abgeschlossen, erzeugt somit eine Verbindung zur biblischen Genesis. Aus dem Menschen wird eine Wölfin, Schöpfung auf kleinstmöglichem Raum.
Mit jedem Mord, den sie begeht, offenbart sich schließlich Zwiebelschale für Zwiebelschale ihr wahres Motiv. Jeweils auf ein Stichwort setzen Rückblenden ein, aus denen sich die Zusammenhänge erschließen. Sie füllen die Lücken der Haupthandlung mit Kontext, dichten wie der notwendige Mörtel das Mauerwerk der Geschichte ab. Aus der ursprünglichen Lust am Töten schält sich schließlich das konkrete Motiv hervor. Der Nebel des Blutrausches lichtet sich, gibt den Blick frei auf das nackte Ich.
Der Moment der Erkenntnis stellt sich in einer tiefbewegenden Begegnung der Erzählerin mit ihrer sterbenden Mutter ein. Die Autorin verdichtet ein umfassendes Spektrum an Emotionen auf wenige bedruckte Seiten. Sie sperrt diese Emotionen in ein Gefäß aus Worten, die dem Leser mit Überdruck in die Eingeweide explodieren, wenn er es öffnet. Und die Scherben dieses Gefäßes, die von den Schmerzen der Erzählerin zerschundenen Wörter fügt sie zu neuen Sinneinheiten zusammen, verändert, verstärkt ihre Bedeutung. Der Text ist so stark komprimiert, daß auf jeder dieser Einheiten das Gewicht des gesamten Romans lastet.
In ihrem chamäleoniden Auftreten gibt sich die Erzählerin zuweilen "putinesk", auf der Beerdigung werden "Worte aus Papier und Sand" gesprochen, und die ursprünglichen kindlichen Wertvorstellungen werden so nachhaltig getilgt, daß es keinen passenderen Begriff dafür gibt als "zernichtet". Schließlich befindet sie in einem Moment der Resignation:
"Der Tod ist ein Schlaf ohne Dämonen" (S. 136)
Persönliches Fazit
Falls es so etwas wie eine Vermählung aus Poesie und Thriller gibt, ist Marina Heib die Trauzeugin.
© Rezension: 2016, Wolfgang Brandner
Drei Meter unter Null | Marina Heib | Heyne Encore
2017, Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 256 Seiten, ISBN: 978-3-453-27111-1
[wolfgang]