Wolf im Regen
Der umstrittene Detective William Oliver Layton-Fawkes, genannt Wolf, ist nach seiner Suspendierung wieder in den Dienst bei der Londoner Polizei zurückgekehrt. Wolf ist einer der besten Mordermittler weit und breit. Er dachte eigentlich, er hätte schon alles gesehen. Bis er zu einem grausigen Fund gerufen wird. Sechs Körperteile von sechs Opfern sind zusammengenäht zu einer Art Lumpenpuppe, einer »Ragdoll«. Gleichzeitig erhält Wolfs Exfrau eine Liste, auf der sechs weitere Morde mit genauem Todeszeitpunkt angekündigt werden. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, doch der Ragdoll-Mörder ist der Polizei immer einen Schritt voraus. Und der letzte Name auf der Liste lautet: Detective William Oliver Layton-Fawkes ... [Text & Cover: ©
Ullstein Buchverlage]
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ACHTUNG: Diese Rezension enthält wesentliche SPOILER.
William-Oliver Layton-Fawkes ... was für ein sperriger Name für eine Hauptfigur. Praktisch, daß er mit seinen Initialen abgekürzt werden kann. Praktisch, daß der Autor den Leser damit gleich zu einem Tier führt, dessen Attribute implizit der Hauptfigur zugeschrieben werden. Nachdem er öffentlichkeitswirksam einen brualen Serienmörder beinahe zu Tode geprügelt hat, lebt Wolf, wie er genannt wird, nach seiner Wiederaufnahme in den Dienst der Londoner Polizei in einer "klaustrophobisch engen Schuhschachtel" (S. 21). Sein Äußeres ist verwahrlost, sein Umgangston ruppig, und an Regeln hält er sich nur, wenn sie seinen Methoden nicht zuwiderlaufen. "Gibt es eigentlich eine Vorschrift, gegen die dieser Mensch nicht verstoßen hat?" (S. 371), fragt da seine Vorgesetzte zurecht. Dennoch ist der vom Leben gezeichnete Veteran der einzige, der den titelgebenden Ragdoll-Fall lösen kann ... eine Rolle, die im Kino üblicherweise von Bruce Willis verkörpert wird.
Auf der Leinwand konzentriert sich für gewöhnlich auch die gesamte Aufmerksamkeit auf den Helden des Films, während die Welt um ihn herum verblasst. Nicht so im vorliegenden Roman:
"Wenn aufsehenerregende Fälle das Leben der Beteiligten zum Stillstand brachten, vergaß man leicht, dass der Rest der Welt ganz normal weitermachte." (S. 47)
Wiewohl der Fall um eine aus den Teilen von sechs Leichen zusammengenähte menschliche Puppe ungewöhnlich bizarr ist, stehen der Polizei für seine Aufklärung nicht unbegrenzte Ressourcen zur Verfügung. Etliche andere Delikte müssen untersucht, Verwaltungsstrafen bearbeitet werden. Wolfs Kollegen sind chronisch überarbeitet, reagieren gereizt und sind weit von ehrfürchtiger Heldenverehrung entfernt. Sie kämpfen mit gewöhnlichen Widrigkeiten wie Verkehrsstaus, Bröseln auf der Tastatur und Fertigerichten, deren Verfallsdatum überschritten ist. Alle Figuren, Orte, Situationen wirken verbraucht, angeschlagen, wie von einer Patina aus Alltagsfrust überzogen. Bei Daniel Cole gibt es keine Helden, die Polizeiarbeit ist kein ins Glorreiche verklärtes Detektivspiel, und bei weitem nicht unter jeder rauhen Schale steckt auch ein weicher Kern. Strömender Dauerregen unterstreicht außerdem in den nicht seltenen Momenten der Niederlage die auf die Figuren einprasselnde Bedrückung.
Auch unter den Figuren gibt es keine deklarierten Sympathieträger, keine von ihnen agiert durchgehend moralisch integer, jede von ihnen ist zuweilen des Lesers Liebling, in anderen Momenten hingegen abstoßend. Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem man jeden aus dem bekannten Personenkreis als Täter in Betracht gezogen hat. Wovon viele Autoren berichten, dürfte aber auch diesem widerfahren sein, nämlich daß Figuren sich gegen die Pläne ihrer Schöpfer zur Wehr setzen. Ganz offensichtlich sollte der vom Betrugsdezernat in Wolfs Team versetzte junge Detective Edmundsen vom ehrgeizigen Amateur-Profiler zum nervenstrapazierenden Musterschüler entwickelt werden. Das Vorhaben mißlingt, vermutlich, weil Edmundsen am besonnensten, am wenigsten cholerisch auf seine Kollegen reagiert.
Die im Klappentext beschriebene Ausgangssituation weckt eine initiale Neugier, die zum Buch greifen, sich in den Seiten verlieren läßt. Die größte Gefahr droht der Aufmerksamkeit des Lesers in jenem Moment, da der erste Sensationsdurst gestillt ist. Viele Autoren des Genres lassen an diesem Punkt ihren Serienmörder erneut zuschlagen. In "Ragdoll" kündigt er seine Taten anhand einer Liste an und erzeugt damit hohen Druck. Der nächste Mord ist nur eine Frage der Zeit. Zudem nimmt der Leser immer wieder an den Besprechungen der Ermittler teil, wird immer wieder mit der Aufstellung der tatsächlichen und potentiellen Opfer konfrontiert. Somit wird man bei der Lektüre förmlich zum Schlußfolgern und Mitraten gezwungen, möchte den Beamten Hinweise geben oder sie zur Vernunft auffordern, wenn sie sich wieder einmal gegenseitig anbrüllen anstatt ihre Kräfte zu bündeln.
Welch ein erhebendes Gefühl kann dem Leser zuteil werden, wenn seine Vermutung über den Täter sich schlußendlich als richtig herausstellt. Welche Bewunderung kann ihm ein geschickter Autor aber auch abringen, wenn die Hinweise so dezent plaziert werden und die Verwirrung so raffiniert gestiftet ist, daß der Leser rückblickend feststellt, wie präzise die einzelnen Puzzleteile ineinandergreifen. In diesem Fall verzeiht man sich auf der letzten Seite großzügig auch eine falschen Vermutung. In "Ragdoll" nimmt das Geflecht aus Personen und Motiven rund um den ursprünglichen Fall eines pyromanischen Mädchenmörders sukzessive konkretere Formen an, daß der Leser mit jedem neuen Indiz seinen aktuellen Verdacht neu bewertet. Dieses Geflecht dürfte für den Autor jedoch die Ausmaße eines gordischen Knotens angenommen haben, der nur mit einer Auflösung durchschlagen werden kann, die wie ein unerwarteter Themenwechsel wirkt: Der wahre Täter entpuppt sich nicht als ein Mitglied des bekannten Personenkreises und wird relativ spät eingeführt. Dazu verstärkt ein Abstecher ins Metaphysische den schalen Geschmack eines Stilbruchs.
Immerhin mündet die Jagd schließlich in einem filmreichen Showdown, der mit Symbolen überfrachtet aber gerade deshalb überaus passend ist.
Persönliches Fazit
"Ragdoll" ist ein hochspannender Debütroman, dessen Auflösung zwar nicht vollends befriedigt, der den Leser jedoch mit seiner bedrückenden Stimmung und einem verzwickten Fall zum Mitraten zwingt.
© Rezension: 2016, Wolfgang Brandner
Ragdoll | Daniel Cole | Ullstein Buchverlage
Aus dem Englischen übersetzt von Conny Lösch.
2017, Klappbroschur, 480 Seiten, ISBN-13 9783548289199
[wolfgang]