Die siebenundzwanzigjährige Juli steht mitten im Leben – manchmal sogar ein bisschen zu sehr. Sie ist Autistin und jeder Tag bedeutet eine gewaltige Masse an Emotionen, die es zu meistern gilt. Als Juli nach einem missglückten Suizidversuch auf eine psychiatrische Station kommt, trifft sie dort auf die überschwänglich-herzliche Sophie und auf Philipp, der mal mehr und mal weniger er selbst, aber stets anziehend für Juli ist. Die drei nehmen Reißaus und verbringen ein gemeinsames Wochenende, nachdem nichts mehr so ist wie zuvor. [© Text und Cover:
Ullstein Verlag]
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Einen geregelten Alltag mit einer dosierten Anzahl an Begegnungen, abends immer zu Hause, das ist das Leben, das Juli braucht, um ihre Ängste einigermaßen kontrollieren zu können. Zwei Monate nach ihrem Selbstmordversuch bekommt sie einen Platz in einer psychiatrischen Klinik, in der sie tagsüber an verschiedenen Therapieformen teilnehmen kann. Es fällt ihr besonders schwer, so etwas Neues und Unbekanntes mit vielen Fremden anzugehen. Juli funktioniert nicht so wie „normale" Menschen. Ihr Verstand folgt seiner eigenen Logik.
„Meine Gedanken rannten völlig kreuz und quer umher, kamen außer Atem, oft rempelten sie sich gegenseitig an, und wenn sie meinen Mund erreichten, sahen sie sich verwundert um und suchten ihr Ende, das längst auf der Strecke liegen geblieben war. Laut ausgesprochen, fanden sie das Ende manchmal wieder. Oder sie entdeckten etwas Neues." (Kap. 5)
In der Klinik lernt sie Sophie und Philipp kennen. Völlig gegen ihre Gewohnheiten macht sich Juli mit den beiden am therapiefreien Wochenende zu einem Trip durch Berlin auf. Eine Autistin, eine Bipolare und ein Schizophrener bilden ein sehr ungewöhnliches Trio. Genauso ungewöhnlich gehen sie miteinander und mit anderen um. Das ist erfrischend anders, aber kann das gutgehen?
Ich kann mir das kaum vorstellen wie es ist, wenn das Gehirn ständig Vollgas gibt. Niah Finnik schafft es mit ihrem Buch aber, mir die abstrakte Denkweise einer Autistin näherzubringen und mein Verständnis dafür zu vergrößern. Sie ist dabei eine nüchterne Beobachterin. Gerade dadurch, dass sie nichts romantisiert, wirkt der Text auf mich glaubhaft und echt. Wie schwer muss es schon als Kind sein, wenn man versucht, wie die anderen zu sein, das aber nicht schaffen kann, und seine eigenen und die Erwartungen der Familie zu enttäuschen? Es ist eine schwere Aufgabe, einen Weg zu finden, um mit dem Wissen, anders zu sein und dass andere die Denk- und Handlungsweisen nicht nachvollziehen können, zurecht zu kommen.
Wo ist die Grenze zwischen „normal" und „verrückt"? Das ist eine zentrale Frage, die die Autorin stellt. Gibt es „Normale" überhaupt? Wir agieren doch alle hin und wieder irrational. Es gibt zweifellos viel mehr Menschen mit psychischen Störungen, als man meint, ist das doch etwas, das man besser unter Verschluss hält, denn anders als bei körperlich sichtbaren Krankheiten fehlt dabei oft das Verständnis. Als wenn der Betroffene selber Schuld wäre daran.
„Manchmal kam es mir auch so vor, als wären die Kranken die Gesunden. Die, die vor den Defiziten der Gesellschaft in die Knie gingen." (Kap. 6)
Herrlich entwaffnend, wie Niah Finnik mit einer Prise Humor den „Normalen" den Spiegel vorhält, in dem sie die weit verbreitete Krankheit mit der höchst wissenschaftlichen Bezeichnung „Intolerantitis" vorhält!
Persönliches Fazit
„Fuchsteufelsstill" ist kein Buch, das man mal so eben kurz wegliest. Dafür sind die Julis Gedankengänge zu komplex. Niah Finnik hat aber eine Balance gefunden, dass ich denen durchaus folgen kann und einen Einblick in ihre Welt gewinne. Für mich ist ihr Roman eine Bereicherung!
© Rezension: 2017, Marcus Kufner
Fuchsteufelsstill | Niah Finnik | Ullstein Verlag
2017, ebook, 304 Seiten, ISBN: 9783843714921
[marcus]
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