Eine Plädoyer für Selbstbestimmung im Alter.
Holt, eine Kleinstadt in Colorado. Eines Tages klingelt Addie, eine Witwe von 70 Jahren, bei ihrem Nachbarn Louis, der seit dem Tod seiner Frau ebenfalls allein lebt. Sie macht ihm einen ungewöhnlichen Vorschlag: Ob er nicht ab und zu bei ihr übernachten möchte? Louis lässt sich darauf ein. Und so liegen sie Nacht für Nacht nebeneinander und erzählen sich ihre Leben. Doch ihre Beziehung weckt in dem Städtchen Argwohn und Missgunst. [© Text und Cover:
Diogenes Verlag]
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Auf den ersten Blick wirkt es kurios: die Nacht nebeneinander mit einem Menschen verbringen, den man kaum kennt. Aber Addie nimmt ihren Mut zusammen und fragt Louis, ob er da mitmacht. So können sie beide ihre Einsamkeit überwinden, und zwar nachts, wenn sie am schlimmsten ist. Es funktioniert ganz ausgezeichnet, sie sind beide sehr zufrieden damit. Ich denke, das ist doch eine prima Idee. So ähnlich wie eine Senioren-WG, nur etwas intimer. Es geht ja nicht einmal um das Körperliche.
Es gibt aber Leute, denen das nicht passt. Schnell geht es um in der Kleinstadt, manche finden es gut und hätten auch gern einen solchen Partner, viele schütteln aber den Kopf und meinen, dass sich das in dem Alter nicht gehörten würde. Manche rufen sogar Louis' Tochter an, um sie auf diese Schande hinzuweisen. Die und Addies Sohn sind auch vehement gegen diese Treffen. Man müsse doch auf seinen Ruf achten!
„Ich habe mir das genau überlegt – es ist mir egal, was die Leute denken. Viel zu lange habe ich darauf geachtet, mein ganzes Leben lang. Aber damit ist jetzt Schluss." (S. 13)
Wie erfrischend ist es doch von Addie, dass sie jetzt mit ihren siebzig Jahren darübersteht. Ihr ganzes bisheriges Leben hat sie immer darauf geachtet, was die anderen meinen. Ich finde, sie hat jedes Recht dazu, ihre Zeit wie und mit wem sie möchte zu gestalten. Sie schadet doch niemandem damit. Wie kommen die Nachbarn und Kinder dazu, ihr dieses Recht auf Selbstbestimmung abzuerkennen? Das ist doch die eigentliche Schande.
Kent Haruf erzählt von Addie und Louis ganz unaufgeregt. Da gibt es keine dramatischen Einschnitte oder schwerwiegende emotionale Erschütterungen. Haruf ist ein feinsinniger Beobachter, der die Hoffnungen und Erwartungen ganz dezent verpackt. Die Weisheit und Gelassenheit, die die beiden dabei an den Tag legen, machen sie mir sehr sympathisch. Letztendlich ist es auch ein beruhigender Gedanke, dass man als älterer Mensch nicht zwangsweise allein und einsam in seinem Alltag festsitzen muss. Wer wünscht sich dafür nicht Gesellschaft so wie Addie?
Persönliches Fazit
Addie und Louis sind zwei wunderbare Charaktere, die sich mit der Selbstgerechtigkeit und Engstirnigkeit von Familie und Kleinstadtbürgern auseinandersetzen müssen. Kent Haruf erzählt davon in einer sehr angenehmen, unaffektierten Sprache und erschafft damit ein glaubhaftes Plädoyer für Selbstbestimmung im Alter.
© Rezension: 2017, Marcus Kufner
Unsere Seelen bei Nacht | Kent Haruf | Diogenes Verlag
2017, gebunden, 208 Seiten, ISBN: 9783257863086
Aus dem Amerikanischen von pociao
[marcus]
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