Ein toller Debütroman!
Sommer 1972. Benjamin ist vor einigen Wochen elf geworden. Im nächsten Schuljahr wird er ein Herrenrad bekommen, eine Freundin und vielleicht eine tiefe Stimme. Doch dann stirbt sein kleiner Bruder Jonas. Nachts sitzt Bens Mutter auf einer Heizdecke und weint. Ben kommt nun extra pünktlich nach Hause, er spielt ihr auf der C-Flöte vor und unterhält sich mit ihr über den Archäopteryx. An Jonas denkt er immer seltener. Ben hat mit dem Leben zu tun, er muss für das Fußballtor wachsen, sein bester Freund erklärt ihm die Eierstöcke, und sein erster Kuss schmeckt nach Regenwurm. Mit seiner neuen Armbanduhr berechnet er die Zeit. [© Text und Cover:
Suhrkamp Verlag]
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Gute Bücher gibt es viele. Einige unterhalten mich gut, andere sind spannend oder erzählen eine gute Geschichte. Dann gibt es - sehr viel seltener - welche, die aus dieser Reihe hervortreten und mich beeindrucken. „Ein fauler Gott" ist ein solches Exemplar, das ich zu diesen Buchschätzen zähle.
Dabei geht es doch um ein tieftrauriges Thema. Jonas stirbt im Alter von acht Jahren. Wie sollen sein Bruder Ben und seine geschiedene Mutter Ruth mit diesem unfassbaren Schicksalsschlag zurechtkommen? Da helfen die tröstenden Worte des Pfarrers oder Phrasen wie „Die Zeit heilt alle Wunden" kaum weiter. Es gibt keine Anleitung zum Trauern. Die beiden versuchen, zusammen und doch jeder für, sich mit ihrem Leben, ihrem Alltag weiterzumachen und den Verlust darin zu integrieren. Eine schwere Aufgabe.
„Mami geht zum Weinen in ihr Schlafzimmer. Sie denkt, dass Ben sie dort nicht hört. Doch Ben hört alles. Er hört ihr murmelndes Schluchzen, das Zittern in der Luft, wenn sie nach Atem ringt, ihr Schniefen, während sie ein Taschentuch sucht, er hört ihr Wimmern, hört, wenn sie auf »Nein« weint oder auf »O Gott« oder auf »Bitte nicht«. Er hört, wenn sie müde wird und still und sich schnäuzt und »Gut jetzt« sagt und aufsteht und aus dem Schlafzimmer kommt und mit ihrem Leben weitermacht." (S. 94)
Stephan Lohse lässt mich aber keineswegs in Trauer versinken. Die meisten Teile des Buchs beschreiben die Dinge aus Bens Sicht, und der beschäftigt sich hauptsächlich mit Schule, Freunden oder Nachbarn. Gerade durch die Fokussierung auf Nebensächlichkeiten und Details wird mir seine enorme psychische Belastung bewusst, die immer knapp unter der Oberfläche zu liegen scheint. Obwohl Lohse aus der dritten Person schreibt, benutzt er dabei die Ausdrucksweise eines Kindes. Das bringt mich sehr nah ran an Ben und ich kann gut nachfühlen, was in ihm vorgeht. Abgesehen davon macht mir dieser Schreibstil einfach auch Spaß.
„Gott ist zu beschäftigt. Er wohnt gleichzeitig auch in allen anderen Kirchen der Erde. Er hört dort den Menschen beim Beten zu. Er hört auch die Menschen, die es nicht in die Kirche geschafft haben und zu Hause beten oder bei der Arbeit. Er soll sogar auf die Menschen hören, die überhaupt nicht beten. Wie soll das gehen?" (S. 193)
Gott findet sich nicht nur im Buchtitel, auch Ben beschäftigt sich mit ihm und stellt sich Fragen, auf die schon viele vor ihm Antworten gesucht haben. Stephan Lohse beweist bei diesem und weiteren Themen, die Ben umtreiben, großes Feingefühl. Das bettet er unaufdringlich in eine Zeit ein, in der es die DDR noch gab und „Ostzone" genannt wurde und in der so wie Ruth vielen die Erinnerung an den Krieg noch gegenwärtig waren. Auch das trägt zu einem stimmigen Gesamtbild bei.
Persönliches Fazit
Ich bin begeistert von der subtilen Art, mit der Stephan Lohse den Verlust von Sohn und Bruder behandelt. Vor allem durch die Verwendung der Perspektive und der Sprache des elfjährigen Bens wird das Buch sehr lebendig und lebensnah. Für mich ein echtes Highlight und ein tolles Debüt!
© Rezension: 2017, Marcus Kufner
Ein fauler Gott | Stephan Lohse | Suhrkamp Verlag
2017, gebunden, 336 Seiten, ISBN: 9783518425879
[marcus]
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