Rezension | Ein Fabian-Risk-Krimi: Minus 18 Grad | Stefan Ahnhem

Clockwork Yellow

In Helsingborg an der schwedischen Westküste wird ein Auto aus dem Hafenbecken geborgen. Eigentlich wäre der Fall klar: ein Unfall. Doch bei der Obduktion stellt sich heraus, dass der Fahrer schon lange tot war, als das Auto ins Wasser stürzte. Kommissar Fabian Risk und seine Kollegen untersuchen den mysteriösen Todesfall. Jemand glaubt, den Toten erst letzte Woche gesehen zu haben. Wie ist das möglich? Risk hat einen Verdacht, aber der ist so absurd, dass er ihn zunächst selbst nicht glauben will. Die Indizien lassen nur einen Schluss zu - es handelt sich um einen Mörder, der das Leben seiner Opfer komplett übernimmt. Er tötet sie, kleidet sich wie sie, spricht wie sie. Nur durch Zufall ist die Polizei jetzt auf seine Spur gekommen. Der Tote im Hafenbecken war nicht sein erstes Opfer, und noch lange nicht sein letztes ... [Text & Cover: © Ullstein Buchverlage]

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Das Thema Identitätsdiebstahl ist in der Literatur gewiß kein Neues. Die Übernahme einer fremden Persönlichkeit, sei es, sich selbst zu bereichern oder sein Opfer zu quälen, dient der Kreativität als Abenteuerspielplatz, auf dem sich große Geister wie Patricia Highsmith ("Der talentierte Mr. Ripley"), T. C. Boyle ("Talk Talk") oder jüngst Tana French ("Totengleich") bereits ausgetobt haben. In Stefan Ahnhems aktuellem Roman begnügt sich der Täter jedoch nicht damit, sich für eine andere Person auszugeben oder dessen digitale Konten zu übernehmen. Wie ein menschliches Chamäleon adaptiert er bis ins kleinste Detail Aussehen, Sprachführung, Gewohnheiten, Musikgeschmack seiner Opfer, die er - und so kommt der Titel des Romans zustande - in einer Gefriertruhe einsperrt. Wo Highsmith und Boyle mit der Angst spielen, für die Taten eines Fremden zur Verantwortung gezogen zu werden, erweitert Ahnhem dieses Spektrum: Die geschilderte Adaption eines fremden Lebens ist unumkehrbar und bietet durch die akribische Vorbereitung kaum Ansatzpunkte zur Verfolgung, kaum Möglichkeiten, die ursprüngliche Idenität des Täters zu finden.

In einem zweiten Erzählstrang übt der Autor anhand einer Erscheinung unter Jugendlichen die für das (skandinavische) Krimi-Genre obligate Gesellschaftskritik. Beim sogenannten "Happy Slapping", das seinen Ursprung in Großbritannien findet, werden zumeist unbekannte Personen spontan körperlich angegriffen, die Inszenierungen werden mitgefilmt und über Videoplattformen verbreitet. In "Minus 18 Grad" sind die Taten einer Gruppe Jugendlicher, die ihre Gesichter hinter knallgelben Smiley-Masken verbergen, grausame Morde an Obdachlosen. Die resultierenden Fragen müssen nicht explizit gestellt werden, sie ergeben sich aus dem Drang des Rezipienten, sich angeekelt von der Lektüre abzuwenden. Was motiviert junge Menschen zu solchen Taten, wie gewissenlos, frustriert müssen sie sein? Wie abgestumpft muß eine Gesellschaft sein, die solche Phänomene hervorbringt, die euphemisierend mit "happy" attribuiert werden?

Die Parallelen der beiden Handlungsebenen sind unübersehbar. Beide Male wird der Exzess einer kriminellen Handlung betrieben, beide Male wird die eigene Identität als hinderlich empfunden und somit verschleiert, sogar ausradiert. Beide Verbrechensserien sind von einem Gefühl der Kälte durchsetzt, im ersten Fall von jener in den Gefriertruhen, im zweiten von der emotionalen der Jugendlichen. Um situationsbedingt die Atmosphäre zusätzlich zu verdichten, läßt Stefan Ahnhem wie bereits in den Vorgängerromanen seine Erfahrung als Drehbuchautor einfließen und liefert die passende musikalische Untermalung. Aus den Lautsprechern von Fabians Sohn Theodor ist etwa jugendlich-rebellisch Kurt Cobain zu vernehmen, und in die sprichwörtliche skandinawische Melancholie wird der Roman von der schwedischen Sängerin Lykke Li getaucht.

Die beiden parallel zueinander verlaufenden Handlungsstränge werden nun aus drei Haupt- und mehreren Subperspektiven erzählt. Neben Fabian Risk, der dänischen Polizistin Dunja Hougaard und Fabians Sohn Theodor blicken Autor und Leser immer wieder den zahlreichen Mitgliedern des Ermittlerteams und Nebenfiguren über die Schulter. Die Erzählführung wechselt dabei ganz nach Bedarf, um die resultierenden kapitelweisen Cliffhanger wie natürlich gewachsen erscheinen zu lassen. Zum anderen dienen die Perspektivenwechsel auch als Taktgeber, um einzelne Elemente miteinander zu synchronisieren und Sprünge in der erzählten Zeit zu ermöglichen. Zuweilen kann man sich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, daß der Autor seinen Figuren zu viel zumutet. Der Selbstmord eines Kollegen stellt die Ermittler vor eine beträchtliche emotionale Herausforderung und bietet ein weiteres Rätsel, dessen Auflösung noch einen starken Handlungsstrang ergeben hätte. In der vorliegenden Form wirkt er jedoch halbseiden und bindet unnötigerweise Aufmerksamkeit.

Der Eindruck der exakten Konstruktion des Romans verfestigt sich zunehmend. Die Unterbrechungen sind punktuell an jenen Stellen gesetzt, an denen die Spannung am höchsten ist. Dazu trägt auch bei, daß die Kapitelenden wie verschlossene Türen sind, an denen jemand Einlaß begehrt. Manchmal ist es nur der freundliche Nachbar, manchmal aber auch jemand, der eiskalt lächelnd sein Anliegen mit einer Pistole unterstreicht. Nicht jeder Cliffhanger bringt also die Eskalation, jeder aber trägt das Potential dazu in sich. Der Weg einer jeden Figur scheint vorgezeichnet, sowohl Anfangs- und Enpunkt, als auch alle Umwege dorthin sind zeitlich exakt aufeinander abgestimmt. Im Enstehungsprozeß des Romans dürften sich die einzelnen durchaus starken Charaktere äußerst diszipliniert verhalten und die Geschichte nicht an sich gerissen oder in eine andere Richtung als die intendierte gelenkt haben. Stefan Ahnhem ist somit ein Uhrmacher, der die Räder seines Getriebes zu schmieren und in Millimeterarbeit einzufügen versteht.

Als wäre die analoge Zeitanzeige des wohl prominentesten Uhrwerks der Literaturgeschichte durch eine digitale ersetzt worden, mutet der Handlungsteil um jene Gruppe halbstarker Jugendlicher an, die mit knallgelben Masken zum Zeitvertreib Obdachlose massakrieren. Wie auch in "Clockwork Orange" dominiert exzessive Gewalt, die keinem erkennbaren Zweck dient. Wo bei Anthony Burgess das musikalische Leitmotiv von Ludwig van Beethoven stammt, setzt Ahnhem auf einen anderen Vertreter der Klassik, nämlich Mozart. Die im Internet veröffentlichten Videos werden vom drittern Satz der 39. Sinfonie untermalt. Hier nimmt Ahnhem sogar Bezug auf das bekannte Vorbild, als die Ermittler über die Musik rätseln:

'Was ist das für eine Musik?', fragte Jensen.
'Wahrscheinlich Beethoven, wie in Clockwork Orange', sagte Ussing.

(S. 207)

Die genannte Mozart-Sinfonie gilt als "eins seiner fröhlichsten und optimistischsten Werke" und wird wie die Ode an die Freude in ihr Gegenteil verkehrt. Die Smileys, Symbole für Lächeln, Vertrauen, Freude aus der digitalen Welt, bringen ebenso Schmerz und Leid. So ist wohl auch der Name Alexandra - ein Mitglied der Jugendbande - als eine Anspielung auf Alex de Large, die Hauptfigur aus "Clockwork Orange" zu verstehen.

Persönliches Fazit

Ein hochspannender, zuweilen etwas überladener Thriller, betrieben von einem präzise getakteten narrativen Uhrwerk.

© Rezension: 2016, Wolfgang Brandner


Minus 18 Grad | Stefan Ahnhem | Ullstein Buchverlage
Aus dem Schwedischen übersetzt von Katrin Frey.
2017, Klappbroschur, 560 Seiten, ISBN: 13 9783471351246
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