Zehntausende Gäste aus aller Welt strömen in die Stadt. Die Olympischen Spiele locken die Besucher zu den Sportstätten, in die Straßen, Bars und Cafés. Für einen kurzen Moment wirkt Berlin in diesem Sommer weltoffen und unbeschwert, als schalte die Diktatur in einen Pausenmodus. Oliver Hilmes folgt Berlinern und Touristen, Sportlern und Künstlern, Diplomaten und Nazi-Größen, Nachtschwärmern und Showstars durch die fiebrig-flirrende Zeit der Sommerspiele und erzählt ihre Geschichten. Es sind Geschichten von Opfern und Tätern, von Mitläufern und Zuschauern. Es ist die Geschichte eines einzigartigen Sommers. [© Text und Cover:
Siedler Verlag]
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Achtzig Jahre ist das Großereignis inzwischen her, das die Nazis für ihre Propaganda ausnutzten und sich als generösen Gastgeber der Olympischen Spiele präsentierten. Aus den sechzehn Tagen der Veranstaltung macht Oliver Hilmes sechzehn Kapitel, in denen er mal in kurzen und mal in längeren Abschnitten vereinzelt über die sportlichen Wettkämpfe, hauptsächlich aber über gesellschaftliche Ereignisse berichtet. Er stellt aber nicht nur nackte Fakten dar, stattdessen erzählt er auf einer persönlichen Ebene. Viele Beschreibungen und Dialoge haben romanhafte Züge und bringen mich dadurch sehr nah heran an die Personen und die damalige Zeit.
An den vielen Details fällt mir auf, dass der Inhalt sorgfältig recherchiert ist. Dass Zeitgenossen wie Joseph Goebbels Tagebuch geführt haben, hilft dabei sicherlich, sich ein unverfälschtes Bild über die Machenschaften des Propaganda-Apparats der Nazis zu machen. Mit immensem, auch finanziellem Aufwand, werden nicht nur die Spiele eindrucksvoll inszeniert, auch mit den Partys und Veranstaltungen am Abend werden Stars und ausländische Diplomaten wirkungsvoll beeindruckt. Kritiker werden konsequent verfolgt und verhaftet, und auch die Presse wird kontrolliert.
„AUSZUG AUS DEN TÄGLICHEN ANWEISUNGEN DER REICHSPRESSEKONFERENZ: Es wird dringend gewarnt, die Berichterstattung der Olympischen Spiele mit rassischen Gesichtspunkten zu belasten." (S. 102)
Die internationalen Gäste werden größtenteils erfolgreich eingewickelt, kaum einem gelingt es, hinter die Fassade zu blicken. Dass zeitgleich vor den Toren Berlins ein Konzentrationslager errichtet wird, kann sich da kaum einer vorstellen.
Dass es damals gereicht hat, eine Halbjüdin in die deutsche Olympiamannschaft aufzunehmen, um einen Boykott zu verhindern, erscheint mir heute unvorstellbar. Natürlich ist es im Nachhinein immer einfach, solche Vorgänge aus der Distanz zu kritisieren. Aus der Sicht gefällt mir die neutrale Art des Autors sehr gut. Er kommt nicht mit dem erhobenen Zeigefinger daher. So wirkt der Text ehrlich und ich kann mir eine unvoreingenommene Meinung über die Ereignisse dieses Sommers in Berlin machen.
Persönliches Fazit
Aus zahlreichen Episoden kann ich mir einen Eindruck davon machen, wie es in Berlin zur Zeit der Olympischen Spiele war, als die ganze Welt auf Nazideutschland blickte. Oliver Hilmes' Erzählweise wirkt nicht wie trockener Geschichtsunterricht, sondern lässt die damalige Gesellschaft wieder aufleben. „Berlin 1936" ist ein lesenswertes Fenster zu einem spannenden Ereignis in einer düsteren Epoche.
© Rezension: 2016, Marcus Kufner
Berlin 1936 | Oliver Hilmes | Siedler Verlag
2016, gebunden, 304 Seiten, ISBN: 9783827500595
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