... ereilt uns irgendwann nach der Rückkehr aus dem Sommerurlaub und dem Seufzen über die wieder notwendig gewordenen winddichten Jacken die in Glühweinschwaden eingewobene Erkenntnis, daß es nicht mehr lange bis zum Weihnachtsfest ist. Daß noch Geschenke besorgt und verpackt, Glückwunschkarten geschrieben, Jahresrückblicke getätigt, Kekse gebacken, Weihnachtsfeiern organisiert, Kinderprogramme organisiert werden müssen und mit Engelsgeduld auf jene Anliegen eingegangen werden soll, die mit einer Vehemenz vorgetragen werden, als fiele das Jahresende diesmal mit dem Ende der Welt zusammen.
Wennn dann die Slalomläufe zwischen Punschständen und mit Einkäufen überladenen Mitmenschen in Bestzeit absolviert sind und es als Form religiösen Leistungssports gewertet wird, trotz Dauerbeschallung und permanenter polarlichtartiger Beleuchtung bei klarem Verstand zu bleiben, steht die größte Herausforderung noch bevor: Innere Einkehr zu finden. Nicht nur zur Besinnung, sondern auch zur Besinnlichkeit zu kommen.
Immerhin handelt es sich um die sogenannte stillste Zeit im Jahr. Irgendwann verklingt aber dann der hartnäckige gesellschaftliche Imperativ, und mit der jahreszeitlichen Kälte kommt die tatsächliche Stille.
Die Lichter sind spärlich, der Atem gefriert zu Rauchschwaden, und das arachaische Bedürfnis nach einem wärmenden Lagerfeuer schält sich zwischen den in sich zusammenfallenden Reklameversprechen hervor. Nach einem wärmenden Feuer, dessen sich niemals verbrauchende Scheite die Erinnerungen an jene Tage sind, da die Welt noch in kurzen Sätze ohne Beistrich erklärbar war. Melodien und Gerüche tragen Gefühle, wecken den Wunsch nach einem Schneckenhaus, in dem es warm ist, und das die Welt in ein Draußen und Drinnen unterscheidet. Nur ganz kurz, nur für ein paar Momente. Im Rückblick verlieren schlimme Erlebnisse ihren Schrecken, angeneme werden mit einem besonderen Glanz verziert. Die heilende Funktion des Gedächnisses erzeugt das, was die "gute alte Zeit" genannt wird.
Ja, das von uns wahrgenommene Spektrum des Geschehens hat sich tatsächlich mit einer Geschwindkeit erweitert, mit der die Möglichkeiten unserer mentalen Verarbeitung nicht mithalten können.
Nicht mehr nur die Nachbarschaft, sondern per Knopfdruck die ganze Welt nimmt in unserem Wohnzimmer Platz.
Ungefiltert und ungewichtet steht die Naturkatastrophe neben der Scheidung eines prominenten Paares neben den aktuellen Angeboten des Möbeldiskonters. Zusammenhänge werden zu einem gordischen Knoten aus Partikularinteressen und bewußt geschürten Emotionen. Erfolgreiche Politiker agieren in der Perfektion der Ablekung immer mehr wie Illusionisten.
Wir stoßen an unsere kognitiven Grenzen, sind nicht mehr in der Lage, alle Konsequenzen der wie Regentropfen auf uns einprasselnden Informationshappen zu erfassen. Wir sehnen uns nach dem Einfachen, der in der Vergangenheit verorteten heilen Welt. Und finden es in den Geschichten, die die Zeit unserer Kindheit wiederaufleben lassen, wie das Angebot jener Händler zeigt, auf deren Ladentisch die Nostalgie feilgeboten wird.
Unter ihnen zu finden ist das bayerische Autorenduo
Volker Klüpfel und Michael Kobr, die mit
In der ersten Reihe sieht man Meer* nostalgische Urlaubsgesfühle wiederaufleben lassen. In vielen deutschen und österreichischen Familien gehörte die alljährliche Reise nach Italien beinahe zur Bürgerpflicht. Von Grenzbeamten als gefürchtete Autoritätsfiguren über die Spielhöllen, in denen die Jetons noch in Lire zu bezahlen waren, bis hin zu bauchlädenbewehrten Verkäufern von Markenuhren zweifelhafter Herkunft ... die Autoren entringen dem
flashbackgebeutelten Leser einen Seufzer nach dem anderen.
Der zentrale Unterschied zwischen den 1980ern und der Gegenwart besteht jedoch in der Kommunikationstechnologie - genauer: deren Abwesenheit.
Wer erinnert sich noch an die Warteschlangen vor den Telephonzellen, ehe man sich mit den Daheimgebliebenen über das Wetter austauschen konnte? Oder das Gefühl erleichterten Aufatmens, wenn man nach zweiwöchiger Isolation von Zeitungen und Nachrichten feststellt ... daß man eigentlich nichts versäumt hat ...
Obgleich kein Freund von Hörspielen, genoß ich vor kurzem
Monster 1983, eine Eigenproduktion von Audible - und fand mich in einer amerikanischen Kleinstadt (natürlich mit Sherriff und Deputies) wieder, in der eine Vielzahl von Klischees bedient wurde, um die Stimmung der Filme aus den 80ern zu erzeugen.
Michael Jackson tanzt den Moonwalk und klingt aus den Kopfhörern der Walkmen, Buben erkunden mit ihren
BMX die Wälder um den See, und im Diner werden
suppentellergroße Hamburger serviert. Von der Qualität der Nahrungsmittel in vergangenen Jahrzehnten schwärmte ja bereits Stephen King, der in
Der Anschlag* lustvoll in der Vergangenheit grub. Und das 30-Jahr-Jubiläum der
Zurück in die Zukunft*-Filme wurde als Reise in das Jahrzehnt von
Huey Lewis & the News begangen.
Aber a propos Italien: Das vorzugsweise mit Spaghetti und Lambrusco induzierte Dolce Vita-Gefühl wird derzeit ja wieder von Musikern wie Al Bano & Romina Power und Umberto Tozzi beschworen, die von einer Schlager-Show zur nächsten gereicht werden. Auch wenn wir ihre Texte immer noch nicht verstehen, erinnern sie uns an den Sonnenuntergang eines längst vergangenen Urlaubstages ...
Eine wahre Renaissance feiert der bis vor kurzem noch verpönte Begriff der Heimat. Trachten von Dirndl bis Lederhose sind im urbanen Umfeld nichts Ungewöhnliches mehr, wir definieren die Zugehörigkeit zu einer Gruppe anhand von regional gebräuchlichen Kodizes. Ist es die Suche nach Bestätigung der eigenen Identität? Ist es die Abgrenzung gegenüber dem sogenannten Fremden? Andreas Gabalier erzeugt ein heimatfilmartiges Heidi-Idyll, das keiner Überprüfung standhält. Wenn er in München "Jo jo, des Steirerland ..." ins Publikum schmettert und die vielstimmige Antwort "... des is mei Heimatland!" tönt, dann wird das wohl nur auf eine Minderheit der 70.000 Besucher des Olympia-Stations zutreffen.
Was hat es also mit der Beschwörung der "guten alten Zeit" und des Heimatgefühls auf sich? Es wäre wohl zu einfach, sie als bloße Modeerscheinung abzutun. Vielmehr dürfte sie Ausdruck eines tief verwurzelten Bedürfnisses nach Beständigkeit, Stabilität, ja sogar Identität sein, wo die sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen nicht mehr automatisch dafür garantieren. Wir genießen es doch, von Zeit zu Zeit uns am Lagerfeuer der Erinnerung zu wärmen und alles andere für den Moment auszublenden. So lange wir jenen kleinen Bereich, der vom Schein dieses Herdfeuers ausgeleuchtet wird, nicht mit der Welt gleichsetzen, in der wir uns Tag für Tag bewegen, werden wir auch gestärkt dahin zurückkehren.
Somit wünsche ich ein frohes, gesegnetes Weihnachtsfest mit vielen erhellenden, erwärmenden Momenten. Möget ihr Gelegenheit, es mit lieben Menschen und spannenden Büchern zu verbringen. Ich freue mich auf ein Wiedersehen und - lesen im nächsten Jahr!
Wolfgang Brandner