Herr Monferat, Sie sind von Haus aus Historiker, legen mit dem Titel «Welt in Flammen» aber einen zeithistorischen Roman vor. Unterscheidet sich die Vorgehensweise? Es existieren unterschiedliche Möglichkeiten, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Die historische Wissenschaft ist ein solcher Weg. Ein sorgfältig recherchierter Roman ist ein anderer. Für die Erzählung über die letzte Fahrt des Simplon-Orient-Express im Mai 1940, die Flucht von Menschen angesichts der deutschen Besetzung, habe ich in einem Umfang Recherchen betrieben, wie er auch bei einer wissenschaftlichen Arbeit angefallen wäre.
Wer sich die Fahrtroute des Simplon-Orient anschaut, quer über den Balkan in die Türkei, wird sofort an die Route denken, auf der sich heute Hunderttausende von Menschen als Flüchtlinge in der Gegenrichtung bewegen. Ist das beabsichtigt?
Der Roman wurde im Jahre 2013 verfasst, lange bevor diese Wanderungsbewegungen – viel zu spät – zum großen Thema wurden. Von den Entwicklungen des Jahres 2015 konnte ich damals nichts wissen. Was ich aber wissen konnte und was uns allen bewusst sein sollte, ist die Tatsache, dass viele Gegner des Naziregimes diese dunkle Zeit nur deswegen überlebt haben, weil man ihnen im Ausland Zuflucht gewährt hat. Von ihnen handelt die Geschichte. Die Flüchtlinge, das sind wir.
Dennoch fällt auf, wie aktuell Ihre Geschichte in so vieler Hinsicht anmutet: «Jeder Grenzübertritt kann das Ende bedeuten.» Drängen sich da nicht Vergleiche auf in einer Zeit, in der in Europa wieder Zäune gebaut werden?
Diese Vergleiche drängen sich deshalb auf, weil die Situation auf einer bestimmten Ebene vergleichbar ist. Die Jahre 1938 bis 1940 erleben einen Zusammenbruch der Ordnungsprinzipien, die auf dem europäischen Kontinent jahrzehntelang Bestand hatten. Im Augenblick der Krise zerfällt Europa in eine Vielzahl von Staaten mit ihren jeweils eigenen egoistischen Interessen. Staaten, die unfähig sind, der Herausforderung zu begegnen, weil sie nicht weiter als bis zu ihrer Nasenspitze blicken können.
Und das ist eine Entwicklung, die sich heute wiederholt?
Geschichte wiederholt sich nicht. Wohl aber wiederholen sich historische Motive, und derjenige, der in der Lage ist, diese Motive zu erkennen, erhält die Möglichkeit, aus der Geschichte zu lernen. Wenn wir aus der Beschäftigung mit der Vergangenheit lernen, dass nur ein gemeinsames Europa eine Chance hat, eine solche Herausforderung zu bestehen, dann ist eine Menge gewonnen.
In diesem Bewusstsein sollte man Ihr Buch lesen?
Man sollte es als einen – hoffentlich – richtig guten Schmöker lesen, mit Liebe, Action und Dramatik, und mit Figuren, die mir wirklich ans Herz gewachsen sind. Das Nachdenken werde ich niemandem verbieten. Dass ich ein Buch für denkende Menschen geschrieben habe, kann ich mir nicht vorwerfen.
Fiel es Ihnen als Historiker schwer, erfundene Elemente wie das Königreich Carpathien in ihr Buch zu implementieren?
Die Technik, nach der ich das Buch gestaltet habe, funktioniert ähnlich einem Prisma oder einem Brennglas, das atmosphärisches Licht an einem bestimmten Punkt konzentriert. Diese Konzentration ist eine doppelte: auf den beengten Raum eines Luxuszuges, der durch das zerbrechende Europa rast und auf die kurze Zeitspanne von zwei Tagen und drei Nächten. Die Carpathien-Handlung fängt dabei Licht aus der Geschichte Carols II. von Rumänien und seiner jüdischen Geliebten Magda Lupescu ein, sammelt aber auch Helligkeit aus ganz anderen Quellen, aus den unterschiedlichen Monarchien auf dem Balkan und darüber hinaus im Verlauf des Krieges. Insofern ist Carpathien nicht fiktiv; es ist ein Chiffre für unterschiedliche komplexe historische Entwicklungen.
Haben Sie für die Recherche für den Roman den ein oder anderen Stopp auf der Route des Orient Express besucht?
Verschiedene Örtlichkeiten habe ich zu unterschiedlichen Zeiten aufgesucht, wobei sich gerade auf den Bahnhöfen die konkrete Situation zum Teil massiv verändert hat; Postumia/Postojna oder Niš wären heute nur schwer wiederzuerkennen. Vor allem aber habe ich mir diesen Zug sehr genau angesehen; die Finger über das Rauchglas gleiten zu lassen, die Struktur der Sitzpolster zu spüren, die Atmosphäre im wahrsten Sinne des Wortes zu erschnuppern: Das ist ungeheuer wichtig. Einige seiner wundervoll schillernden Wagen sind aufwendig konserviert und restauriert worden und in Einzelfällen heute auf "Nostalgiereisen" sogar wieder im Einsatz.
Ist für Sie eine Verfilmung des Buchs vorstellbar und wenn ja, welche Schauspieler würden Sie favorisieren?
In manchen Momenten hat sich die Arbeit angefühlt wie die Arbeit an einem Drehbuch. Wenn man einen so beengten Raum "bespielt", muss man genau wissen, wer nun an welcher Stelle steht; ob das schon rein physisch überhaupt funktionieren kann. Verschiedene Szenen der Handlung sind filmische Zitate. Der Rückblick auf die erste Begegnung der beiden Richards` etwa, die Rodeo-Szene, hat eine Menge von "Misfits" ("Nicht gesellschaftsfähig"). Einen Riesenspaß hat es gemacht, immer wieder über die Handlung der unterschiedlichen Filme nachzugrübeln, in denen Betty Marshall mitgewirkt hat: Diese Szene, in der sie Conrad Veidt eigentlich nur die Zigarette aus dem Mund treten sollte, dann aber sein Kinn erwischt hat, und Cukor habe die Szene dann im fertigen Film belassen, weil sie einfach so eindrucksvoll war ... Ist das nicht ein Jammer, dass Hollywood das niemals gedreht hat? - Und die wichtigsten Figuren haben wir auf
www.welt-in-flammen.de tatsächlich im Bilde gecastet.
© Interview: Rowohlt Verlag / Marcus Kufner