Im Augenblick des Todes | Vincent Kliesch

Eine brutale Mordserie. Und ein Ermittler, der selbst zum Hauptverdächtigen wird ...


[Klappentext] Kommissar Severin Boesherz genießt gerade seinen Spaziergang am Schlachtensee, als ein mysteriöser Mann in einer Limousine vorfährt, sich als »Ismael« vorstellt und Boesherz zu einem Ausflug einlädt. Die Fahrt endet am Tatort eines bestialischen Mordes: Ein Arzt sitzt skalpiert und ausgeweidet in seiner eigenen Praxis. Bei dem Mord handelt es sich um die exakte Kopie des einzigen Verbrechens, das Boesherz nie aufklären konnte. O ffenbar will der Täter dem Kommissar gezielt eine Botschaft übermitteln - und es soll nicht die einzige bleiben. Boesherz weiß: Er muss das Rätsel lösen, bevor seine eigene Vergangenheit ihn einholt ... [© Text und Cover: Blanvalet Verlag]

[SPOILERWARNUNG]

Da im folgenden Text Bezug auf den Inhalt des Romans genommen wird, sei an dieser Stelle eine Warnung ausgesprochen: Wer sich die Spannung erhalten möchte, wird gebeten, auf diese Rezension erst nach Abschluß den Romans zurückzukommen.

[wb] Wer Vincent Kliesch (oder zumindest seine Romane) kennt, weiß, daß es der gerlernte Restaurantfachmann genießt, seinen lukullischen Leidenschaften auch in den Romanen Ausdruck zu verleihen. War es in seiner Trilogie um Kommissar Julius Kern noch der Gegenspieler Tassilo, der sich durch die Berliner Sterneküchen mordete, ist nun der Genießer auf der anderen Seite des Gesetztes beheimatet: Nach "Bis in den Tod hinein" legt Kliesch nun mit "Im Augenblick des Todes" den zweiten Fall für seinen neuen Ermittler Severin Boesherz vor, der nicht nur einem erlesenen Spätburgunder namens Quercus frönt, sondern wie selbstverständlich in seinem bevorzugten Restaurant zur Wahl des richtigen Salzes für den Hauptgang gebeten wird. Zudem findet er Inspiration in klassischer Musik, ist stets elegant gekleidet und weiß die Annehmlichkeiten seines VW Phaeton zu schätzen.

Diese bekannten Kliesch-Topoi sind nun in seinem bereits etablierten eigenen Berlin mit den bekannten Schauplätzen wie "Bärbels Gourmettempel" beheimatet, das mit Figuren wie dem Journalisten Jan Bittrich bevölkert ist. Eckpfeiler wie diese dienen dazu, die Stadt des Autors von der realen Stadt abzugrenzen, eine Parallelwelt zu erschaffen, die aus Superheldencomics vertraute Zuspitzungen der Figurenkonstellationen erlaubt. So, wie beispielsweise das New York des amerikanischen Marvel-Verlags eine Spielwiese für Spiderman und Co darstellt, ist auch hier Klieschs Schauplatz eine Modell-Metropole. Die erwähnte Figuren-Fokussierung durften die Leser bereits erleben, als das Duell zwischen Julius Kern und seinem Nemesis Tassilo Michaelis in den ersten drei Romanen wie unter einer erzählerischen Brennlinse unnatürlich vergrößert erschien, alles rundherum ausblendete. Neben dem schillernden Helden müssen alle anderen Figuren verblassen, ihm allein sind die Möglichkeiten gegeben, den aktuellen Gegenspieler zur Strecke zu bringen. Das bewährte Konzept scheint dem Autor zu gefallen, sodaß er es hier wiederholt. Die Deutung liefert er praktischerweise gleich mit, indem er den Vergleich zu Sherlock Holmes und Doktor Moriarty zieht. In jedem anderen Kontext, in dem Wert auf größtmögliche Authentizität gelegt wird, wäre eine solche Situation höchst unrealistisch. Eine derartige Exponiertheit der Figuren, ein Fall, der sich nur durch linguistische Spezialkenntnisse (wie die Konjugation von Sanskrit-Verben) lösen läßt, wäre wohl in einer "Tatort"-Episode undenkbar. Auch hier ringt der Leser über weite Strecken mit der Glaubwürdigkeit, ehe sich mit einer Auflösung Zufriedenheit einstellen darf, die im Rahmen der definierten Erzählgesetze durch und durch stimmig ist.

Der Makel der Figur Severin Boesherz besteht jedoch in dessen Makellosigkeit: Aufgrund des überdurchschnittlichen Intelligenzquotienten, einem Blick, dem nicht das kleinste Detail entgeht, weder am Schauplatz des Verbrechens, noch an seinem Gegenüber, wirkt er als Identifikationsfigur für den Leser ungeeignet, zu sperrig. Anders als sein Vorgänger Julius Kern vertraut er nicht auf seinen Instinkt, sondern ausschließlich auf seinen messerscharfen Verstand. Der Leser hat somit das Gefühl, immer nur beobachtender Beifahrer von Boesherz' Phaeton zu sein, ohne jemals selbst ans Steuer gelassen zu werden. Außerdem ist dem Leser schnell klar, welche Bewandtnis es mit Boesherz' minderjährigem Freund haben muß, der diesbezügliche Spannungsaufbau wird somit obsolet.

Ist der Roman deswegen langweilig, vielleicht aufgrund der wenig innovativen Handlung abgedroschen?
Au contraire!
Die Herausforderung für den Autor besteht ja darin, für einen Kommissar, der in Aufklärungsquote, Kultiviertheit und Weltgewandtheit an James Bond erinnert, einen würdigen Gegner zu finden. Severin Boesherz wird gewaltsam an seinen einzigen ungelösten Fall weit in seiner Vergangenheit erinnert, die Wunde wird gewaltsam aufgerissen und in einen kleinen Salzgarten verwandelt. Das kriminelle Gegenüber wird wir ein Maßanzug auf Boesherz zugeschneidert, zum Vergnügen des Lesers läßt Kliesch seiner Kreativität freien Lauf.

"In des Lebens Frühlingstagen ist das Glück von mir geflohn"
So beklagt in Ludwig van Beethovens einziger Oper "Fidelio" der im Gefängnis vegetierende Don Florestan das Los seiner Einsamkeit. (Eine kontroversielle Inszenierung steht übrigens auch auch auf dem aktuellen Spielplan der Salzburger Festspiele.) Als eine solche Gefangenschaft muß Kommissar Severin Boesherz letztendlich auch seinen überragenden Intellekt empfinden, der ihn in den Kerker der sozialen Isolation verbannt. Sein Glück in Form einer geistig ebenbürtigen Partnerin findet er  in einer Partnerin, die ihm jedoch vom Schicksal wieder entrissen wird. Interessanterweise trägt diese den Namen Leonore, gleich wie die Gattin des Don Florestan im Fidelio. Die Andeutung des Autors ist unverkennbar. Dann schlägt er jedoch einen erzählerischen Weg ein, der radikal von jenem Beethovens abweicht. In einer der berührendsten Arien der Operngeschichte besingt Don Florestan Leonore als einen "Engel im rosigen Duft", der ihn zur Freiheit führt, "ins himmlische Reich". Wo Florestan jedoch höchste Erlösung findet, ist bei Kliesch das Gegenteil der Fall. Seine Leonore wird zu einem grimmigen Racheengel, der den im Elfenbeinturm seines Intellekts gefangenen Boesherz erst befreit, um ihn dann ins Verderben zu stürzen.



Seinem comichaften Stil treu bleibend, setzt Vincent Kliesch mit dem zweiten, überaus persönlichen Fall um Severin Boesherz den Leser unter Strom. Neben Speis und Trank in hochkultivierter Form scheint es der Autor auch zu genießen, eine pervertierte Form von Beethovens "Fidelio" zu erschaffen.

© Rezension, 2015 Wolfgang Brandner


Vincent Kliesch | Im Augenblick des Todes | Blanvalet Verlag
August 2015, Taschenbuch, 416 Seiten, ISBN: 978-3-7341-0054-3


Weitere Bücher von Vincent Kliesch:

Rezension || Bis in den Tod hinein
Rezension || Der Prophet des Todes
Rezension || Der Todeszauberer
Rezension || Die Reinheit des Todes

Vincent Kliesch im Interview


[wolfgang]

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