AUFGELESEN #3
Liebe Leserin, lieber Leser,
kennst Du dieses Gefühl kurz vor der körperlichen Erschöpfung, wenn eine innere Stimme verlockend flüstert, das persönliche Ziel sei ohnehin bereits erreicht und eine verdiente Pause längst überfällig? Wenn eine andere Stimme wie ein widerspenstiger Wirbelsturm sich dagegen aufbäumt
und noch weiter antreibt, Meter um Meter, Sekunde um Sekunde? Unabhängig von Niveau und Motivation werden diese Regungen wohl jedem, der gerne Sport betreibt, vertraut sein.
Eine der bereicherndsten Möglichkeiten zur körperlichen Verausgabung stellt für mich seit jeher das Radfahren dar. Der Weg führt von jenen quälenden Minuten, in denen man die Absurdität des gebückten Sitzen im Sattels hinterfragt, über die unbestimmbare Dauer, während der Mensch und Maschine zu einer Einheit verschmelzen bis hin zu jenen kurzen Glücksmomenten, in denen der Wald ringsum den weiten Blick über das Tal freigibt. Wenn die Zeit und das bewusste Denken verschwimmen, das monotone Knirschen des Schotters unter den Reifen die Wahrnehmung ausfüllt, alleine das Wegstück bis zur nächsten Kurve zählt, dann ist das eine Form von Glück. Wenn sich die Bedürfnisse auf das Vorwärtskommen reduzieren, ist man ganz und gar im Moment gegenwärtig.
Und doch beschleichen einen manchmal Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Unterfangens, gerade, wenn die Witterung alles andere als einladend ist. Gewiss gibt es weitaus weniger mühsame Möglichkeiten, Selbstbestätigung zu erlangen, als bei Kälte, Regen und Gegenwind frühmorgens bergauf zu radeln. Gut, dass Zeitgenossen, die sich das Grübeln zu Beruf erkoren haben, das Unaussprechliche, das sich zwischen Herz und Waden abspielt, in Worte kleiden.
In der Anthologie <
"Die Philosophie des Radfahrens" teilen vorwiegend Philosophen, aber auch Physiker, Sport- und Kulturwissenschafter ihre Leidenschaft zur Bewegung auf zwei Rädern. Steen Nepper Larsen, Privatdozent für Philosophie an der Universität Aarhus in Dänemark verweigert sich etwa einer Begründung:
"Muskelkraft und Wohlbefinden vereinen sich im Radfahrer, der sich für sein Recht, Rad zu fahren, nicht rechtfertigen muß. Mit anderen Worten: Wir fahren, weil wir fahren und weil wir es wollen."
Er zieht dann den Schluss: "Der Widerspruch zwischen dem Nutzlosen (der Freizeit, der Ungezwungenheit) und dem Nützlichen (der Arbeitszeit, der Zweckmäßigkeit) löst sich auf." Oder Stephen D. Hales, Professor für Philosophie an der Bloomsburg University nimmt Friedrich Nietzsches "Also sprach Zarathustra" zum Ausgangspunkt für seine Überlegungen und schreibt von einer "Art perversem Stolz", wenn er vom Radfahren als einem meditativen Akt schreibt und letztendlich zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt: "Radfahren bedeutet, das Leben auf das Nötigste zu reduzieren, ohne einen anderen Anspruch als den, immer weiter in die Pedale zu treten."
In den letzten Jahren habe ich akustische Begleitung zu schätzen gelernt - natürlich unter Erhaltung der Verkehrstauglichkeit. Zunächst habe ich die Wirkung von Musik auf mein Fahrverhalten beobachtet: Während bei Bachs Brandenburgischen Konzerten die Umgebung ihre landschaftlichen Reize entfaltet, gleicht sich bei Lady Gaga die Trittfrequenz den stampfenden Rhythmen an. Nichts verleitet jedoch so sehr zum gedanklichen Eintauchen wie ein spannendes Hörbuch - je länger und je ausführlicher, desto besser. Auf einem Forstweg der stetigen Aufwärtsbewegung ergeben, wo durch das Blätterdach der Bäume immer wieder die Sonnenstrahlen brechen, gedanklich dabei vollständig in einer Erzählung zu versinken ... das ist komprimierter Urlaub. Irgendwann beobachtet man das Gedächtnis bei der Arbeit, wie es Szenen der Geschichte mit markanten Punkten am Wegrand verbindet.
Ich persönlich erinnere ich mich, wie ich beispielsweise zum Abschlussball in Stephen
Kings
"Der Anschlag" eine steile Serpentinenstraße erklomm oder mich ein sommerlicher Regenguss auf einem Hochplateau überraschte, als in Markus Heitz'
"Exkarnation" der Jäger Eric vor den Toren einer hochgeheimen Einrichtung eintraf.
Liebe Leserin, lieber Leser, wie hältst Du es mit Literatur und Sport, Gesamterlebnis oder Gegensatz? Und was waren Deine größten Siege gegen den eigenen inneren Widerstand?
Freudiges Weiterlesen!
© Wolfgang Brandner
Labels: Aufgelesen, Kolumne by Wolfgang