Rezension || Die Geister von Graz | Robert Preis

Graz, Jänner 2014. Kälte, Blitzeis und die ständige Debatte, ob das Betteln auf den Straßen der Stadt in Ordnung ist oder nicht.
Und dann verschwinden plötzlich Menschen. Kurz darauf tauchen Körperteile auf. Alles geht schnell. Horror-Geschichten alter Legenden kursieren. Aberglaube grassiert. Steigert sich zum Hass. Gegen Fremde. Gegen Bettler. Bis ein abgetrennter Kopf in der Grazer Bahnhofshalle auftaucht. 

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Die Sprache des Autors zeichnet sich durch einen außergewöhnlich dichten, ganz offensichtlich durch die berufliche Tätigkeit als Zeitungsredakteur geprägten Stil aus, mit dem viel an Information in jeden Satz gepackt wird und der dem Leser ein großes Maß an Aufmerksamkeit abverlangt. Hinzu kommt die kreative Arbeit mit Synonymen und Umschreibungen, die oft nicht deckungsgleich mit dem bezeichneten Gegenstand sind. Infolgedessen wird die denotative Begriffsebene noch durch eine konnotative bereichert, auf der emotionale Inhalte transportiert werden. 

Der Roman ist in sechs mit markanten Schlagworten (Schrecken, Versprechen, Schauergeschichten, Furcht, Raserei, Tod) betitelten Abschnitte unterteilt, unter denen wiederum eine zweite hierarchische Schicht mit nummerierten Kapiteln angesiedelt ist. Während die Abschnitte dem Autor als Orientierungshilfe zu dienen scheinen, werden die Kapitel geschickt eingesetzt, um durch Szenenwechsel eine filmische Dramaturgie zu erzeugen. Nicht nur dienen diese kleinen Zäsuren alle zwei bis drei Seiten dazu, Sprünge in Zeit, Ort und Perspektive zu absolvieren, hier werden auch kurze Kommentare zum Zeitgeschehen eingeflochten, Gedanken und innere Monologe gewälzt, die an den Minimalismus Don Winslows erinnern. Zudem lässt der Autor die Gelegenheit nicht verstreichen, die Struktur als Stilmittel zum Spannungsaufbau zu nutzen, indem die Erzählung an entscheidenden Stellen unterbrochen und erst in einem späteren Kapitel fortgesetzt wird. 

Einen wesentlichen Anteil - zu signifikant, um bloßer Ornat zu sein - nehmen jene Kapitel ein, die Lokalkolorit der steirischen Landeshauptstadt vermitteln. Tatsächlich erweist sich der Roman als raffiniertes Gewebe, in dem spannender Kriminalfall und das Stimmungsbild einer sich mühsam am Leben erhaltenden Stadt eng miteinander verflochten sind. Ohne langatmig zu dozieren, drosselt der Autor immer wieder das Erzähltempo, um im Stile einer Glosse auf offene gesellschaftliche Wunden hinzuweisen. Teils kommentierend, teils neutrales Faktenwissen replizierend, schafft er sich somit eine wehmütige Hommage an seine Heimatstadt. Robert Preis schlüpft dabei engagiert in die Rolle eines Chronisten, wie sie jeder menschliche Lebensraum hervorbringt, der es sich zur Aufgabe erhebt, jene Erinnerungen und Emotionen zu artikulieren, die durch die Lebensumstände von Ort und Zeit den Biographien der Bewohner eingeschrieben werden. Preis zeichnet das Portrait der kleinen Metropole mit sterbenden Stadteilen, zeigt Verwahrlosung, Ressentiments gegenüber anderen Volksgruppen, sowie ein schwindendes Sicherheitsgefühl als Symptome eines sowohl architektonisch sichtbaren, wie erst auf den zweiten Blick wahrnehmbaren moralischen Verfalls. Er nimmt den Leser an der Hand und führt ihn durch Gassen, die in keinem touristischen Prospekt zu finden sind, durch den dichten vom Feinstaub verstärkten Nebel, vorbei an verfallenden Gemeindebauten und Notschlafstellen und über den Grazer Steinfriedhof, sodass man meint, Wolfgang Ambros' Hymne auf den größten Wiener Gottesacker aus der Ferne zu vernehmen. Dabei agiert Preis in keinem Moment als sensationslüsterner Klatschreporter, sondern stets mit der respektvollen Behutsamkeit des gebürtigen Grazers. 

Ein weiteres Anliegen des Autors scheint zudem der in Vergessenheit geratene Balkan-Krieg zu sein, der sich nicht nur inhaltlich, sondern auch strukturell manifestiert. In Prolog und Epilog unverhüllt sichtbar, stellt er eine eiserne Klammer dar, die das Geschehen umschließt, einengt, jeden Versuch, sich ihm zu entziehen, erstickt. 

Nur schwer lassen sich auch die Figuren ignorieren, von denen Robert Preis' Graz bevölkert wird. Bereits im Namen des serbischstämmigen Nemanja Izetbegovic spiegelt sich der Krieg wieder. Während der Vorname "treuer Freund" bedeutet, erinnert der Nachname an einen prominenten Verbrecher des genannten Krieges. Der im Rahmen seines Austauschprogramms seinen Dienst in Graz absolvierende Polizist bietet an, den Vornamen mit Nemo - lateinisch für "niemand" - abzukürzen, womit er in der Anonymität verschwindet, die Einebnung der Gesellschaft durch den Krieg verdeutlicht, der kein Gesicht hat, ungreifbar ist. 

Im Gegenzug trägt Bruno Hass, dessen Nachname bereits die ihm zugedachte Rolle im Roman vorwegnimmt, überdeutliche Züge. In der Tat schafft der Autor mit dem frühpensionierter Lehrer, der auf ein gescheitert empfundenes Leben zurückblickt, eine allegorische Figur, die in dieser Funktion keiner tieferen charakterlichen Analyse bedarf und jene Teile der Bevölkerung repräsentiert, die ihr Heil in der Identifikation eines Sündenbocks finden. Im Fall von Bruno Hass sind es Migranten und Obdachlose, die er für seine eigene Situation verantwortlich hält und gegen die sich sein Zorn entlädt. 
Im Sog der Figur Bruno Hass gerät auch Kommissar Armin Trost in die allegorische Deutung, der ein persönliches Scheitern erlebt, indem er das Versprechen seines Namens nicht einzulösen in der Lage ist. Zunächst jedoch wird er als Akt bürokratischer Verzweiflung aus seinem Krankenstand wieder in den aktiven Polizeidienst zurück beordert. Er schält sich als Lichtfigur aus den Nebelschatten der Stadt, wird in das stereotype Bild des einsamen Wolfs und letzten Hoffnungsträgers gepresst und somit durch punktgenaue Erfüllung des Klischees als Figur beinahe überzeichnet. Immer wieder gerät man daher in Versuchung, sich ihn beim Lesen als einen steirischen Bruce Willis vorzustellen.


Persönliches Fazit:

Robert Preis verarbeitet die lange nachhallenden Schrecken des Krieges, sowie aktuelle gesellschaftliche Anliegen zu einem Blues auf seine Heimatstadt, dessen wehmütige Melodie sich ins Gedächtnis gräbt.

© Rezension: 2014, Wolfgang Brandner


Robert Preis - Die Geister von Graz – Emons Verlag
Kriminalroman, Broschur 13,5 x 20,5 cm, 272 Seiten
ISBN 978-3-95451-446-5
Euro 10,90 [D] , 11,30 [AT] *Preis zum Zeitpunkt der Rezension

[wolfgang]

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