Rezension: Bios | Daniel Suarez


[klappentext start] Das Wild, das du jagst: Du bist es selbst. Im Jahr 2045 ist das Zeitalter der Technik Geschichte; die biologische Moderne ist angebrochen. Algen und Pilze bauen Autogehäuse, die Boomstädte Asiens werden nachts von Leuchtbäumen erhellt. Auch vor dem menschlichen Körper macht die Bio-Revolution nicht halt. Jeder will hochgezüchtete Designer-Babies, ob legal oder nicht. Die Zeche zahlen andere. Kenneth Durand leitet bei Interpol den Kampf gegen diese Genkriminalität. Und ein Mann steht dabei im Fadenkreuz: Marcus Demang Wyckes, Kopf eines so mächtigen wie skrupellosen Kartells. Eines Tages erwacht Durand aus dem Koma. Man hat ihn entführt. Er sieht anders aus. Seine DNA ist verändert. Er ist Marcus Demang Wyckes. Der Mann, der weltweit gesucht wird. [Text & Cover: Rowohlt Verlag] [klappentext ende]

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Marcus Wyckes ist als Anführer einer Organisation, spezialisiert auf Eingriffe in die menschliche Genetik jenseits aller Ethik, einer der meistgesuchten Verbrecher. Durch die an sich selbst angewandten Ergebnisse illegaler Forschung gilt er als nicht zu fassendes menschliches Chamäleon ... ein Fall für Kenneth Durand, Spezialist für Data Minig bei Interpol:

"Meine Algorithmen haben Hunderte illegaler CRISPR-Labors in Dutzenden Ländern geortet - aber wir haben nicht nach Individuen gesucht. Wir haben nach einem Muster illegaler gewerblicher Aktivität Ausschau gehalten." (S. 60)

Auf dem Weg zu seiner Familie wird Durand überfallen und mit einem Mittel kontaminiert, das seine genetische Struktur fundamental ändert. Er erwacht mit dem Körper von Marcus Wyckes und findet sich plötzlich auf der Flucht vor seiner eigenen Behörde. Um seine Identität wieder zu erlangen, muß er den echten Wyckes zur Strecke bringen.

Die Ausgangssituation erinnert auffällig an "Face / Off - Im Körper des Feines", einen Film aus dem Jahr 1997, in dem ein FBI-Agent mit einem Terroristen mittels Gesichtstransplantation den Körper tauscht. "Bios" spielt nun im Jahr 2045, der Wechsel der Identität wird wesentlich eleganter bewerkstelligt. Obwohl also die Handlung nicht neu ist, hat sie in den 20 Jahren seit Veröffentlichung des Filmes nichts von ihrem Spannungspotential eingebüßt, ganz im Gegenteil. Suarz' neue Roman ist in einer Zukunft angesiedelt, die sich aus aktuellen Entwicklungen der Gegenwart ergeben könnte: Aufgrund zunehmendem Konservativismus' und Wissenschaftsfeindlichkeit in den USA verlagert sich das Zentrum internationaler Forschungen in den asiatischen Raum. Biowissenschaft und gezielte Eingriffe in das Genom mittels der als "Genschere" bekannten Technologie CRISPR/Cas9 sind jene Schlüsseltechnologien, die Singapur eine Stellung einräumen, die derzeit noch das Silicon Valley innehat. Der Roman darf somit durchaus als Hinweis auf die Geschichte verstanden werden, daß große Weltreiche vergehen und von anderen abgelöst werden.

Der Beginn weist starke Ähnlichkeiten zu Marc Elsbergs "Helix" und Peter James' "Perfect People" auf, wo in spezialisierten, nicht legalen Kliniken die körperlichen und geistigen Attribute von Kindern ganz nach den Wünschen und der Finanzkraft der werdenden Eltern im Bausteinprinzip modelliert werden. Einen florierenden Schwarzmarkt, spezialisiert auf punktuelle genetische Veränderungen an lebenden Menschen, wie etwa Augenfarbe oder Körperkraft gibt es auch in Ramez Naams "Nexus"-Trilogie. Suarez geht aber noch weiter: Indem die Eigenschaften bereits geborener Menschen weit über einzelne Eingriffe hinaus veränderbar sind, wird auch das Konzept der Identität grundlegend infrage gestellt. Damit greift der Autor ein beliebtes Thema der Literatur auf und stellt die Frage nach dem Ich nicht aus philosophischer oder psychologischer, sondern aus biologischer, naturwissenschaftlicher Sicht. Inwieweit bestimmt die genetische Konstellation den Charakter? Wie beeinflussen Gestalt und körperliche Kapazitäten unser Handeln? Und - von besonderem juristischen Interesse - unter welchen Voraussetzungen kann eine Tat einer konkreten Person zugerechnet werden, mit welchen Rahmenbedingungen ist die Deliktsfähigkeit definiert?

"Lebende Menschen editieren zu können unterminiert die Grundfesten aller staatlichen Autorität - nämlich die Möglichkeit, jeden Menschen eindeutig zu identifizieren. Wenn die DNA lebender Menschen verändert werden kann, gibt es keine Grundlage mehr, um jemanden zur Verantwortung zu ziehen. Wofür auch immer. Dieses Verfahren wird viel illergaler sein, als es Embryo-Editing jemals war (...)". (S. 183)

Suarez' Vision umfaßt noch einen weiteren kontroversiellen Standpunkt der aktuellen US-Administration: Der globale Klimawandel schreitet weiter fort und verursacht in noch weitaus größerem Ausmaß als bisher Migrationsbewegungen. Weite Landstriche werden unbewohnbar oder können nicht mehr bewirtschaftet werden, ganze Völker werden zu Heimatlosen. In den Transit- und Zielländern ihrer Flucht werden sie von Schleppern und Menschenhändlern aufgegriffen, der Sklavenhandel erlebt eine Renaissance. Teure Kapitalnlagen werden durch die im Überfluß vorhandene Ressource Mensch ersetzt - eine perverse Umkehrung des kapitalistischen Prozesses.

Und auch die automatisierte Kriegsführung hat sich weiterentwickelt. Autonom agierende, schwer bewaffnete Drohnen durchstreifen den Urwald nach Aktivitäten möglicher Feinde und gehen mit tödlicher Gewalt gegen diese vor. Damit referenziert Suarez auf seinen 2012 erschienenen Roman "Kill Decision", in dem mit Schwarmintelligenz ausgestattete Maschinen ein brisantes Bedrohungsszenario darstellen. In "Bios" ist dieses realisiert, etwaige moralische Bedenken sind wirtschaftlichen Interessen untergeordnet.

Ob nun die geschilderten Entwicklungen vorteilhaft oder gar wünschenswert sind, diese Einschätzung überläßt der Autor seinen Lesern. Seine Figuren erleben ihre Welt als gegeben, der Weg dorthin ist für sie unveränderbar, unverhandelbar. Wie von Daniel Suarez gewohnt, beanspruchen die genannten Überlegungen nicht die Hauptrolle, sie bilden lediglich die Bühne, auf die sich eine kurzweilige, spektakuläre Handlung entwickelt, die den Leser kaum zu Atem kommen läßt. Obwohl der Showdown obligat ist, erkennt Suarez die aufgeworfene Problematik - die nun nicht mehr fest definierten Grenzen der Identität - als zu komplex, um sie in einem zugespitzten Zweikampf zu lösen ... demnach hinterläßt das offene Ende den Leser aufgewühlt.

Persönliches Fazit:

"Bios" ist ein intelligenter Hochgeschwindigkeitsflug durch die Seiten, der das menschliche Selbstverständnis an einer ideologisch ungedeckten Flanke angreift - und daher umso massiver trifft.

© Rezension: 2017, Wolfgang Brandner


Bios | Daniel Suarez | Rowohlt Verlag
übersetzt von: Cornelia Holfelder-von der Tann
2017, Taschenbuch, 544 Seiten, ISBN: 978-3-499-29133-3


[wolfgang]   

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