Es beginnt mit der Erschaffung der Welt – in einem Abteil der Belebeier Schmalspurbahn, tief in der russischen Provinz. Und damit, dass Alexander Wassiljewitsch, gestandener Provinzadvokat und Anwalt der Erniedrigten und Beleidigten, seinen Lebenslauf fürs Kompendium der Gerichtsrede zu schreiben hat. Daraus erwächst eine große Abrechnung, etwas wie Russlands Jüngster Tag. Im Zeugenstand die hohe Literatur: von Tolstois »Auferstehung«, dem berühmtesten aller russischen Gerichtsromane, über Dostojewskis »Verbrechen und Strafe« bis hin zu Olga, Katja, Mascha, Larissa, all den tapfer beharrenden und tragisch vergehenden Frauen im Roman wie im Leben. Und immer wieder schieben sich die Erlebnisse eines jungen Mannes dazwischen, der Michail Schischkin heißt und vom chaotischen Moskau der 1990er Jahre einen langen Abschied nimmt. [© Text und Cover: DVA Verlag]
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Als ich mit diesem Buch begonnen habe, war mir schon klar, dass es ein eher komplexes sein wird. Nach den ersten Abschnitten habe ich mich dann auch gefragt, wovon der da denn nur schreibt, da bin ich zunächst nicht so recht reingekommen. Aber keine Sorge: das wurde schnell besser, es hat sich dann sogar eine regelrechte Sogwirkung eingestellt. Ich habe den Roman dann fast nicht mehr aus der Hand gelegt.
Der Beginn ist aber auch ziemlich abstrakt, bei dem slawische Gottheiten im Zug auf dem Weg zu einer Gerichtsverhandlung die Welt erschaffen. Diese Verhandlung bildet den groben Rahmen, bei der die Kultur und die Gesellschaft Russlands des 20. Jahrhunderts im Fokus stehen. Demzufolge kommen Anwälte zu Wort, die in ihren Plädoyers auch mal ausschweifend werden. Der größte Teil des Textes beschäftigt sich aber mit dem Leben von Angeklagten, Zeugen, Geschädigten oder des Autors selbst. Schischkin kommt diesen Einzelschicksalen sehr nahe und gibt damit einen Einblick in den Alltag der Russen verschiedener Epochen der letzten gut hundert Jahre. Er hat den Roman 1998 beendet, reicht damit zeitlich nicht bis zur aktuellen Situation. Die Perestroika ist aber dabei.
„auf diesem Land liegt ein Fluch, hier wird nie etwas anders werden, sie geben dir zu fressen, bis du platzt, aber dich als Mensch zu fühlen wird dir auf ewig verwehrt sein, hier zu leben ist eine einzige, fortwährende Demütigung, von morgens bis abends, von der Geburt bis zum Tod, und wenn wir jetzt nicht ausbrechen, dann bleibt es unseren Kindern überlassen, und wenn nicht sie, so werden unsere Enkel es tun…" (S. 157)
Eine beachtliche Leistung liefert der Übersetzer. Schischkin wechselt gerne mitten im Abschnitt die Sprache von modern zu altmodisch bis hin zu Versformen. Das ist ein gutes Stilmittel, um in der Zeit zurückzureisen, ohne das explizit zu erwähnen. Sehr hilfreich waren für mich die Anmerkungen im Anhang des Buchs. Schischkin verwendet eine Unzahl von Zitaten von griechischen Philosophen, römischen Rednern, russischen Dichtern und vielen anderen. Immer wieder nach hinten blättern stört zwar etwas den Lesefluss, aber mit diesen Erläuterungen habe ich die Zusammenhänge besser erkannt, denn auch wenn ich Tolstois Krieg und Frieden gelesen habe, bin ich mit der Historie russischer Literatur nur bruchstückhaft bewandert. Der Verlag hat ergänzend eine
Internetseite mit weiteren Hintergrundinformationen und einer Übersicht aller verwendeten Zitate eingerichtet. Da hat sich Schischkin mal richtig ausgetobt.
Persönliches Fazit
Wer eine Affinität zur russischen Literatur hat und sich von der Komplexität nicht abschrecken lässt, ist bei „Die Eroberung von Ismail" gut aufgehoben. Mich hat das Werk jedenfalls sehr beeindruckt, auch wenn ich sicher noch nicht alles erfasst habe, was im Roman behandelt wird. Ein zweites Mal lesen lohnt sich für mich auf jeden Fall.
© Rezension: 2018, Marcus Kufner
Die Eroberung von Ismail | Michail Schischkin | DVA Verlag
Aus dem Russischen von Andreas Tretner
2017, gebunden, 512 Seiten, ISBN: 9783421046437
[marcus]
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