Rezension: Winterschwimmer | Alexander Osang

Weihnachtsgeschichten in urbaner Vielfalt


In Alexander Osangs Weihnachtsgeschichten haben die Protagonisten ihre besten Jahre hinter sich, wenn sie überhaupt je beste Jahre hatten. Da ist der Immobilienmakler, der am Weihnachtsabend seine eigene Wohnung vermittelt. Oder die bekannte Fernsehmoderatorin, die sich beim Saunieren ausschließt und, nur mit einer Mülltüte bekleidet, hofft, dass ihr jemand die Tür öffnet. Und da ist ein Geschäftsführer, der verzweifelt versucht, sein Jackett aus dem Altkleidercontainer zu fischen, denn die Kette, das Weihnachtsgeschenk für seine Frau, steckt noch in der Tasche. Mit seinen Geschichten fängt Alexander Osang Fallende und Gefallene ein. Weihnachten zeichnet er nie als pompöses oder grundgutes Fest. Er versteht es als eine Zeit der Inventur, da man überprüft, was eigentlich noch im Regal des Lebens steht. Oft steht, ganz hinten, etwas Bemerkenswertes. [© Text und Cover: Aufbau Verlag]

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Jedes Jahr schreibt Alexander Osang eine Weihnachtsgeschichte, vierzehn davon sind in diesem Band enthalten. Was mich neugierig gemacht hat war, dass es sich nicht um rührselige Erzählungen handelt, wie sie gerne passend zur Adventszeit veröffentlicht werden. Die Darsteller sind Leute, die nicht besonders auffallen. Die Einblicke in ihr Leben lassen erkennen, dass die meisten von ihnen recht einsam sind, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so erscheint. Sie kämpfen um ihre Existenz, auch wenn sie längst auf dem absteigenden Ast sind. Oder sie müssen sich damit abfinden, dass ihre Beziehung vorbei ist. Das erzeugt oft einen melancholischen Grundton, dem ein tapferes, stilles Weitermachen mit einer dezenten Hoffnung gegenübersteht.



Osangs Geschichten sind in und um Berlin angesiedelt, dem Zentrum deutsch-deutscher Geschichte. Das tangiert einige der Protagonisten. Mal ist es eine Managerin aus dem Westen, der der Sinn des Karrierestrebens und des Kapitalismus verloren geht, mal ein Ostdeutscher, der sich noch immer nicht an die neuen Gegebenheiten gewöhnt hat. Aber auch aktuelle Themen spielen eine Rolle wie beispielsweise der Terroranschlag vom Breitscheidplatz.

„Er dachte an den Angstforscher, der im Radio erzählt hatte, dass er jetzt auf den Weihnachtsmarkt gehen würde, obwohl er Weihnachtsmärkte nicht mochte. Mussten wir mit dem Luftgewehr auf Papierblumen schießen, kandierte Äpfel essen und Kettenkarussell fahren, bis uns schlecht wurde? Als Zeichen gegen Terrorismus? Durfte man schon lachen, oder musste man bereits lachen?" (S. 114)

In der Adventszeit wünschen wir uns doch alle Zufriedenheit und eine Wohlfühlatmosphäre. Dass das in Wahrheit oft anders aussieht, zeigt uns Alexander Osang auf. Seine Geschichten spielen alle zur Weihnachtszeit, in der Wünsche und Sehnsucht noch deutlicher zu Tage treten als sonst. Er beschreibt das sachlich und unemotional und ist dabei ein feinsinniger Beobachter. Wer in jeder einzelnen Geschichte eine große moralische Erkenntnis erwartet, wird allerdings enttäuscht. Die drängt sich keineswegs auf. Bei der einen oder anderen Erzählung habe ich mich schon gefragt, was mir der Autor sagen will, da ist bei mir nichts hängengeblieben. Dass jede der vierzehn Geschichten für mich die Büchse der Pandora öffnet, wäre auch etwas zu viel erwartet.

Persönliches Fazit

Alexander Osang beweist sich als feinsinniger Beobachter seiner Berliner Protagonisten. Zwar konnte mich nicht jede seiner Geschichten fesseln, wer aber in der Adventszeit etwas lesen mag, das nicht auf die Tränendrüsen drückt und klug geschrieben ist, sollte einen Blick in „Winterschwimmer" werfen.

© Rezension: 2017, Marcus Kufner


Winterschwimmer | Alexander Osang | Aufbau Verlag
2017, gebunden, 240 Seiten, ISBN: 9783351036881

[marcus]

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