Rezension: Kukolka | Lana Lux

"Ich hörte das Keuchen. Ständig hörte ich das Keuchen der Männer"



Ukraine, 90er Jahre. Große Party der Freiheit. Manche tanzen und fressen oben auf dem Trümmerhaufen der Sowjetunion, andere versuchen noch, ihn zu erklimmen. Auch Samira. Mit sieben Jahren macht sie sich auf die Suche nach Freiheit und Wohlstand. Während teure Autos die Straßen schmücken, lebt Samira mit ein paar anderen Kids in einem Haus, wo es keinen Strom, kein warmes Wasser und kein Klo gibt. Aber es geht ihr bestens. Sie hat ein eigenes Sofa zum Schlafen und eine fast erwachsene Freundin, die ihr alles beibringt. Außerdem hat sie einen Job, und den macht sie gut: betteln. Niemand kann diesem schönen Kind widerstehen, auch Rocky nicht. Er nennt sie Kukolka, Püppchen. Wenn Kukolka ihn lange genug massiert, gibt er ihr sogar Schokolade. Alles scheint perfekt zu sein. Doch Samira hält an ihrem Traum von Deutschland fest. Und ihr Traum wird in Erfüllung gehen, komme, was wolle.  [Text & Cover: © Aufbau Verlag]

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„Kukolka“ hat mich emotional sehr mitgenommen, hat mir regelrecht weh getan und mich aufgewühlt. Umso schwerer ist es nun, die passenden bzw. angemessenen Worte für dieses wahrlich starke Debüt von Lana Lux zu finden.  Das Thema ist kein Leichtes, das war mir natürlich schon im Vorhinein klar. Auch, dass es mich sicher sehr berühren würde, war mir bewusst. Aber Samira, von allen Kukola (Püppchen) genannt, hat mich wahrlich umgehauen. Aber ich bereue keinesfalls, es gelesen zu haben- ganz im Gegenteil! Es gibt Geschichten, die müssen einfach weh tun. Und „Kukolka“ ist genau solch eine. 

Wir begleiten Samira etwa ab ihrem siebten Lebensjahr, als sie beschliesst, aus dem Heim abzuhauen, in dem sie seit jeher lebt. Samira schließt nicht leicht Freundschaft, ausser zu Marina, die immer zu ihr steht. Als diese adoptiert wird und nach Deutschland geht, schwören sie sich, dass sie sich wieder sehen werden, dass Samira auch nach Deutschland kommen wird und sie wieder zusammen sind. Ein Traum, der Samira nicht mehr loslässt und der zu ihrem erklärten Lebensziel wird. Auch als der Strudel sie stetig weiter nach unten zieht, ist es der Gedanke an Marina, der sie nicht aufgeben lässt. 

Was sich zu Beginn ein wenig wie Oliver Twist liest, wird sehr schnell richtig krass. Nach ihrer Flucht trifft sie, völlig desorientiert von der Welt ausserhalb des Heimes, auf Rocky, der ihr Hilfe anbietet. Rocky ist ihr Retter und Peiniger, der ihr zwar ein Dach über dem Kopf anbietet, der Preis dafür aber ein sehr hoher ist. Sie wird zur Bettlerin und gibt das Geld abends an Rocky, wie auch die anderen Kinder im Haus. Un sie ist gut, richtig gut! Und auch sehr hübsch, wie Rocky immer wieder betont, seine „Kukolka“ eben - die ihn für Schokolade auch schon mal streicheln muss… 
Sie fühlt sich aber dennoch meist wohl, arrangiert sich mit der Situation. 

Es roch nach Zuhause. Mein Leben war toll. Ich hatte eine richtig erwachsene Freundin und einen echten Job, den ich sehr gut machte. Ich war diejenige, die beim Betteln mehr bekam als jeder andere. (S. 79) 

Das redet sie sich auch später immer wieder ein, während sie mit ansehen muss, wie zwei ihrer Freundinnen sterben. Misshandlung und Prügel gehören zum Leben wie dreckige Klamotten, „Taschen putzen“ und singen im knappen Kleidchen vor spielenden und saufenden Männern. Mit zwölf Jahren überschlagen sich die Ereignisse und Samira landet in Deutschland. Doch sie hat sich das alles ganz anders vorgestellt. Statt endlich Marina zu finden, kommt sie geradezu vom Regen in die Traufe. Sie wird zur Prostitution gezwungen. Mit 13 Jahren hat sie nun etwa drei Freier am Tag und ehe sie sich versieht, wird sie an ein übles Bordell verkauft. Hier durchlebt sie die wahre Hölle, ist nur noch eine Ware, die im Internet 24h am Tag gebucht werden kann, die benutzt und misshandelt wird. Sie ist „Frischfleisch“ und wird ca. 10-20 mal am Tag von giergetriebenen Männern gebucht, die sie gnadenlos verletzen. Sie nimmt Drogen und Tabletten um den Schmerz zu verdrängen. Sie klinkt sich aus, so gut sie kann. 

"Ich wurde so ein bisschen wie unsere Waschmaschine. Ganz viele Programme, alle laufen automatisch ab, und von aussen sieht man nur, dass sich was dreht.“ (S. 304)

Besonders an dieser Geschichte ist, dass wir all das, all diese furchtbare Grausamkeit, von Samira selbst erfahren. Wir haben Teil an ihren Gedanken, erleben hautnah ihre innerliche Abgestumpftheit, ihre Resignation. Wir begleiten sie auf ihrem Weg vom jungen Kind bis hin zur fünfzehnjährigen Teenagerin, die mehr erleiden musste, als man sich überhaupt vorstellen kann. 

Die Frage kommt oft auf, ob es denn solch ein brutaler, schonungsloser Roman sein muss. Ob das wirklich notwenig sei. Ich persönlich finde: Ja, das muss sein. Es tut sehr weh, aber es rüttelt an uns und macht uns nicht blind für die Welt ausserhalb unserer Filterblase. Denn „Kukolka“ ist ein Aufschrei. Lana Lux hat bewusst ihrer Protagonistin zu Wort kommen lassen, hat ihr eine Stimme gegeben. Samira steht und spricht für die vielen, vielen Kinder, Mädchen und junge Frauen, die tagtäglich durch solch oder eine ähnliche Hölle des Big Business „Prostitution“ gehen, die nur als Ware angesehen, benutzt, missbraucht und gebrochen werden. „Kukolka“ steht für die brutale, aber wahre Realität, die hinter vielen zugezogenen Fenstern und getönten Autoscheiben überall auf der Welt stattfindet.

Ich [...] wollte meinen Körper in eine unzerstörbare Plastikfolie einschweißen, so wie alles Wertvolle in Deutschland eingeschweißt wird. Aber er war nicht wertvoll genug. Ich war nicht wertvoll. Bloß ein Niemand. Schlimmer noch. Wer niemand ist, kann alles werden. Ich nicht. Ich war eine Nutte. Das war eine Endstation. (S. 329) 

Auch die Sprache ist brutal. Vulgär und oft erscheint sie emotionslos, gar nüchtern. Aber auch das gehört dazu, denn diese Welt kann nicht mit schönen Worten geschmückt und verharmlost werden. 

Persönliches Fazit

„Kukolka“ ist definitiv kein Buch für Zartbesaitete, so ehrlich muss man sein. Wer das Buch zur Hand nimmt, muss wissen, auf was für eine Erfahrung man sich einlässt. Es schmerzt, man mag schreien - aber man liest weiter. Immer mit diesem kleinen Fünkchen Hoffnung, dass es da noch was kommen muss. Dass es das Leben doch auch mal gut meinen muss mit Kukolka. 
Ich habe „Kukolka“ an einem Stück gelesen und für den Rest des Tages keine Ruhe mehr gefunden, war am umherwandern, war innerlich vollkommen aufgewühlt. Mich wird die kleine Heldin Samira noch sehr lange beschäftigen und das ist auch gut. Ein so schonungsloses, ergreifendes und doch so starkes Buch, dass sensibilisiert.

© Rezension: 2017, Alexandra Stiller




Kukolka | Lana Lux | Aufbau Verlag
2017, HC, 375 Seiten, ISBN 978-3-3551-03693-5


[alexandra]

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