Rezension: Die Reise | Murray Bail



Frank Delages Ziel ist Wien, die Stadt, die er mit seinem Flügel im Sturm zu erobern hofft. Delage ist Australier, und er hat mit einer revolutionären Erfindung dem Klang des Instrumentes zu einer ungekannten Klarheit, einer einzigartigen Brillanz verholfen. Und wo, wenn nicht in Wien, der Stadt von Mozart und Mahler, wird man das Ausmaß seiner Erfindung begreifen und zu würdigen wissen, so die Hoffnung des Manns von Down Under.
Doch weit gefehlt – die Wiener Gesellschaft dreht sich um sich selbst, frönt dem dekadenten Wohlleben in Salons und Caféhäusern. Am Ende reist Frank auf dem Containerschiff Romance nach Hause, die junge Adlige Elisabeth von Schalla im Gepäck. [© Text und Cover: Dörlemann Verlag]

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Das hat sich Frank Delage einfacher vorgestellt. Völlig überzeugt von seinem Produkt geht der Pianofabrikant aus Sydney davon aus, dass er Europa im Sturm erobern wird. Doch weit gefehlt: er bekommt keinen Fuß in die Tür. Das liegt nicht nur daran, dass er nicht Deutsch kann. Die Wiener Kunstszene ist satt und selbstzufrieden. Ein Konzertflügel aus Australien? Die haben da unten doch überhaupt keine Kultur! So bleiben ihm die Türen verschlossen.






Bis er zufällig die Bekanntschaft von Amalia von Schalla macht. Sie gehört zu einer der einflussreichsten Familien der Stadt und ist eine Kunstmäzenin. Aus Gründen, für die selbst Delage keine Erklärung hat, nimmt sie sich ihm an und möchte ihn unterstützen. Er ist ganz fasziniert von dieser charismatischen Frau, der die Schönheit ihrer Jugend noch immer anzusehen ist. Allerdings ist es die Tochter Elisabeth, die ihm die Sehenswürdigkeiten Wiens zeigt und ihm ihre Aufmerksamkeit schenkt. So gerät Frank unversehens zwischen die beiden Damen der High Society. 

Es ist ein Rätsel, wann genau die Geschichte spielt. Heute würde man von Wien nach Sydney fliegen, es muss also zu einer Zeit sein, als man die Ozeane noch mit dem Schiff überquert hat. Von der sprachlichen Seite her und so wie die Personen miteinander umgehen hätte ich auf bestimmt 100 Jahre zurück getippt. Es gibt aber vereinzelt Hinweise, wie beispielsweise dass ein Krieg (nur welcher?) vorbei ist, die darauf hindeuten, dass die Ereignisse doch noch nicht so lange her sind. Ein interessanter Effekt dabei ist, dass sich das Bild, das ich mir im Kopf von der Stadt und den Menschen mache, praktisch in Luft auflöst und sich neu formt.

„Es gibt immer einen Führer, der die Zaghaften, die Konventionellen um sich versammelt, so hat die politische und die Piano-Welt in Europa seit Jahrhunderten funktioniert, zu ihrem eigenen Nachteil, Delage sah hinab auf seine Schuhe, sah auf zu den jungen Männern, die ihn beobachteten, die Mehrheit versammelt sich hinter dem etabliertesten Piano-Namen, dem am wenigsten progressiven, zu ängstlich, eigene Wege zu bestreiten, und so ist es mit allem in der Welt." (S. 87)





Murray Bail scheint kein Freund von Kapiteln und Abschnitten zu sein, die gibt es im Buch einfach nicht. Auch Punkte verwendet er selten, statt dessen aber viele Kommas. Das verlangt beim Lesen zwar mehr Aufmerksamkeit, erzeugt aber gleichzeitig einen fast schon musikalischen Rhythmus. Das passt ganz ausgezeichnet zu dem Thema und zu dem prächtigen Wiener Umfeld. So fließend wie der Text sind auch die eingebauten Zeitsprünge. Gerade sind wir noch mit Frank und Elisabeth auf der Rückreise mit dem Containerschiff, da finden wir uns manchmal noch im selben Satz wieder in Wien, als Delage Amalia sein Piano vorstellt. Erstaunlicherweise konnte ich diesen übergangslosen Wechseln ohne Probleme folgen.

Persönliches Fazit

„Die Reise" ist eher ein Buch für Genuss- als für Schnellleser. Für mich war es jedenfalls ein Genuss, diesem besonderen Sprachrhythmus und der scheinbar erfolglosen Reise des Australiers nach Austria und zurück zu folgen.

© Rezension: 2017, Marcus Kufner


Die Reise | Murray Bail | Dörlemann Verlag
2017, gebunden, 288 Seiten, ISBN: 9783038200420
Aus dem Englischen von Nikolaus Hansen


[marcus]

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