Rezension: Das Gesicht meines Mörders | Sophie Kendrick

Selbsfindung mit stilistischen Anlaufschwierigkeiten


Sie muss sich erinnern, um zu überleben.

Als Clara aus dem Koma erwacht, ist ihr bisheriges Leben wie ausgelöscht. Sie erinnert sich weder ihren eigenen Namen noch an ihren Ehemann, den Schriftsteller Roland Winter. Auch nicht an den Einbrecher, der sie niedergeschlagen haben soll. Freunde scheint sie keine zu haben - Roland ist ihre einzige Verbindung zur Vergangenheit. Mit seiner Hilfe wagt Clara einen Neuanfang. Bis jemand versucht, sie umzubringen. Und die junge Frau begreift, dass sie sich erinnern muss, um zu überleben. Schritt für Schritt rekonstruiert Clara ihr Leben und stößt auf eine geheimnisvolle Frau, mit der sie am Tag des Unglücks verabredet war. Und die seither spurlos verschwunden ist. [Text & Cover: © Rowohlt]

[trennlinie]

Vielleicht ist es selektive Wahrnehmung, vielleicht auch dem eigenen Geschmack geschuldet, doch es scheint, als seien Autoren und Verlage seit dem Erfolg von "Girl on a Train" auf den Geschmack gekommen. Unzuverlässige Erzähler oder - noch besser - unzuverlässige Erzählerinnen üben derzeit eine besondere Faszination auf das lesende Publikum aus. Die Geschichte wird eng an der Hauptfigur entweder in der ersten Person oder aus personaler Perspektive erzählt. Dabei weiß der Leser entweder von Anfang an oder ab einem bestimmten Punkt im Roman, daß die auf diese Weise vermittelten Informationen nicht hundertprozentig zutreffend oder zumindest verzerrt sind.

"Das Gesicht meines Mörders" gesellt sich in eine Gruppe von Romanen, die aktuell mit dem Thema Amnesie kokettieren. In "Das Paket" von Sebastian Fitzek, "Fremdes Leben" von Petra Hammesfahr oder "Black Memory" von Janet Clark ist der Protgagonistin jener Teil der persönlichen Erinnerung abhanden gekommen, der mit einem traumatischen Ereignis verknüpft ist. Dieses Ereignis steht im Zentrum der Handlung, seine Aufklärung ist das vordringliche Ziel, weil die von ihm ausgehende Gefahr noch nicht gebannt ist.

Die Ausgangssituation gestaltet sich analog zum Roman von Petra Hammesfahr: In einem Krankenhaus erwacht die Protagonisting aus ihrem Koma, momentan von den zahllosen Sinneseindrücken überfordert. Während bei Hammesfahr jedoch die Bewußtseinsbildung wesentlich mehr Zeit beansprucht, scheint es Kendrick eiliger zu haben, in ihre Geschichte einzutauchen. Die Vergegenwärtigung des Unfalls, die damit einhergehende physische Deformation, das Hadern mit dem eigenen Schicksal, das Ausprobieren des eigenen Namens wie ein lange nicht getragenes Kleidungsstück, all diese Aspekte nutzt Hammesfahr, den Charakter ihrer Figur langsam zu formen. Ungeduldigeren Lesern kommt Kendricks Ansatz hier entgegen, dem Realismus hingegen ist es nicht zuträglich, wenn Clara nach knapp dreißig Seiten aus dem Krankenhaus entlassen wird.

Tatsächlich läßt der Stil der Autorin an Komplexität vermissen:

"Ich ruhe mich ständig aus, denn ich bin noch immer schrecklich müde." (S. 44)

Einfache Sätze wie diese prägen die Erzählung, die Dialoge wirken holprig, wenig nuanciert, auf die Vermittlung von Sachinformation beschränkt. Mag zunächst die defensive Führung der Hauptfigur, die akribische, kaum wertende Beschreibung von Eindrücken noch dem gesundheitlichen Zustand zuzuschreiben sein, so scheint sich die Autorin über dieses Stadium nicht hinauszuwagen. Eillipsen, die durch geringe Erzählzeit die rasche Abfolge von Wahrnehmung repräsentieren sollen, wirken in ihrer Häufigkeit unbeholfen. Figuren, Orte, Situationen werden oft nur durch Andeutungen charakterisiert, der Selbstmordversuch der Hauptfigur wird so beiläufig erzählt, als würde sie sich eine Tasse Tee kochen.

"Ich saß noch eine Weile bei ihm, dann bin ich wieder nach oben gegangen." (S. 63)

Offensichtliche grammatikalische Schwächen ziehen die Aufmerksamkeit des Lesers vom Inhalt auf die Form. Auch umgangssprachliche Ausdrücke wie "wegsaufen", "runter" oder die Überfahrt mit einem Boot, die "wie im Vollrausch" erlebt wird, wirken befremdlich. Die Autorin erweckt den Eindruck, als wäre sie noch auf der Suche nach ihrem persönlichen Stil, als ringe sie noch darum, die Sprache zu bändigen. Erst etwa ab der Hälfte des Romans gelingt es ihr, das Werkzeug mit den Fingern anstatt mit der Faust zu führen.

Die Geschichte selbst ist überlegt konstruiert: Durch einen Brand ist das Haus von Clara und mit ihm alle Erinnerungsstücke zerstört. Ihr Mann Roland verfügt über das Informationsmonopol, sie ist zur Wiederfindung ihrer Identität vollständig auf ihn angewiesen. Daß der Protagonistin nicht hunderprozentig zu trauen ist, wird dem Leser ebenfalls an mehreren Stellen vermittelt. Ihre Wahnvorstellungen und eine unbegründete Anzeige wegen Stalkings sind leuchtend blinkende Warnsignale. Der Themenkomplex Erinnerung und Identitätsfindung wird deutlich erkennbar symbolisch als roter Faden durch das Buch gesponnen. Das niedergebrannte Haus repräsentiert ebenso wie ein verfallenes ehemaliges Kinderheim die verlorene Kindheit. Zudem findet Clara heraus, daß ihr Vater Archäologe war, das Graben in der Vergangenheit also familiär bedingt ist.

Persönliches Fazit

Zwei Frauen begeben sich auf die Suche, die Hauptfigur des Romans nach ihrer Identität, die Autorin nach ihrem Stil. 

© Rezension: 2016, Wolfgang Brandner


Das Gesicht meines Mörders | Sophie Kendrick | Rowohlt Verlag
2016, Taschenbuch, 320 Seiten, ISBN:  978-3-499-27273-8


[wolfgang]

Labels: , ,