Rezension: Black Memory | Janet Clark

Amnesie & Action


Ein vermisstes Mädchen mit einer einzigartigen Inselbegabung.
Eine Ärztin, die sich an jedes Detail ihrer Ausbildung erinnern kann, aber nicht an ihren Namen und auch nicht an das Verbrechen, das sie begangen haben soll.
Als Clare orientierungslos auf einem Boot vor der indonesischen Küste erwacht, wird sie verhaftet. Sie soll ein kleines Mädchen entführt haben. Nur durch den Einsatz eines Mannes, mit dem sie angeblich verheiratet ist, kommt sie frei.
Zurück in London begreift sie, dass der Schlüssel zu dem Schicksal des vermissten Mädchens in ihrer Erinnerung vergraben ist. Doch diese ist verschüttet - von einem Trauma, so extrem, dass sich Clare mit einem völligen Blackout schützt. [Text & Cover: © Heyne Verlag]

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"Plätschern. Es ist das Erste, was ich wahrnehme."
Bereits der Auftakt des Romans läßt den Leser in die Rolle der Hauptfigur schlüpfen, die ohne Erinnerung an einem ihr unbekannten Ort das Bewußtsein erlangt. Vorerst dienen detailliert geschilderte Sinneswahrnehmungen als einziges Mittel zur Orientierung. Die Erzählzeit übersteigt dabei sogleich die erzählte Zeit, die Eindrücke wirken verzerrt und verlängert. Die Autorin verweigert dem Leser konsequent eine objektivierte Sicht von außen, er ist darauf angewiesen, der Protagonistin zu vertrauen, die im Präsens der ersten Person erzählt. Somit gilt es, die offensichtlichen Fragen aufzuklären: Jene nach  der Beschaffenheit der Situation, deren Zustandekommen und vor allem der eigenen Identität. Der Gedächtnisverlust wird hier als geschicktes Stilmittel genutzt, indem Handlung und Figur erst vor den Augen des Lesers entworfen und spielerisch ausprobiert werden. Der Schritt aus dem läuternden Dunkel eines Gefängnisses in eine relative Freiheit repräsentiert eine Wiedergeburt:

"Sogleich wird es heller. Anstatt der nackten Glühbirnen, (...), ist nun warmes, freundliches Tageslicht die vorherrschende Lichtquelle." (S. 28)

Mit den für den Heimflug nach London erforderlichen Reisepaßdaten (Clare Brent, 37) sind aber noch längst nicht alle Zusammenhänge erfaßt. Einmal die Neugier des Lesers geweckt, versteht es die Autorin, den Hunger nach Informationen in kleinen Portionen zu stillen, ohne ihn zu überfüttern. Jede vorerst befriedigend beantwortete Frage trägt bereits den Keim einer neuen in sich. Wie ist es um die angebliche übersinnliche Gabe von Clares Tochter Bonnie bestellt? Warum haben sich die beiden nach Indonesien abgesetzt? Welche Kette von Ereignissen hat gerade zu der Ausgangssituation geführt? Insbesonder jedoch: Wem kann Clare glauben?

Clares Ehemann Paul, der Portier Raphael - der ganz offensichtlich mehr ist als ein hilfreicher Geist -, die angebliche Freundin Angela, sie alle ringen um Clares Vertrauen. Sie alle versuchen, Clare mit rationalen und emotionalen Argumenten auf ihre Seite zu ziehen und das in einer Situation, in der das Fundament des Selbstbildes der Hauptfigur noch nicht wieder ausreichend gefestigt, sie noch leicht manipulierbar ist. Sowohl Paul, als auch Raphael sind gleichermaßen vertrauenerweckend und dubios, die differenzierte Figurenzeichnung beläßt auch den Leser in einem anhaltenden Zustand der Ungewißheit. Das wechselnde Erzähltempo, das den Roman fragmentiert, taucht ihn zuweilen in ein surreales Licht. Immer wieder eingestreute Andeutungen bestätigen den Eindruck, daß die Suche nach dem Gesamtbild noch nicht abgeschlossen ist:

"Bonnie hat auf die letzte verbliebene Ebene der Privatsphäre der Menschen Zugriff. Der letzte Bereich, der nicht erfasst und überwacht werden kann, weder legal noch illegal." (S. 261)

Auf formaler Ebene wird dieser Eindruck zudem durch eine Gratwanderung zwischen den Genres unterstützt. Die Anreicherung eines Psychothrillers mit mystischen Elementen, wirkt vorerst wie unentschlossen, erweist sich jedoch spätestens im actiongeladenen Finale als schlüssig und wohl durchdacht. Der Titel des Romans wird schließlich in einem charakteristischen Symbol wieder aufgegriffen: Das Memoryspiel, das erst vorüber ist, wenn alle Karten aufgedeckt, alle Bildpaare gefunden sind, symbolisiert den Zustand der Hauptfigur. Ergänzend werden geheime Botschaften als Rätsel getarnt, die natürlich nur von Clare entschlüsselt werden können. Ein bewährtes dramaturgisches Stilmittel, das hier jedoch - wie auch das hollywoodtaugliche Timing im Finale - sehr konstruiert wirkt.

Persönliches Fazit

Eine unter Amnesie leidende Ärztin muß ihr verschwundenes, mit übersinnlichen Fähigkeiten ausgestattetes Kind finden, während sie von allen Seiten manipuliert wird. Durch die überlegte Dosierung von Informationen und geschickt eingesetzte Variationen im Erzähltempo fesselnd bis zur Auflösung.

© Rezension: 2016, Wolfgang Brandner


Black Memory | Janet Clark | Heyne Verlag2016, Paperback, Klappbroschur, 384 Seiten, ISBN: 978-3-453-41833-2


[wolfgang]

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