Vor sieben Jahren ist der reiche und zurückgezogen lebende Geschäftsmann Philipp Petersen während einer Südamerikareise spurlos verschwunden. Seither zieht seine Frau Sarah (37) den gemeinsamen Sohn alleine groß. Doch dann erhält Sarah wie aus heiterem Himmel die Nachricht, dass Philipp am Leben ist. Die Rückkehr des vermeintlichen Entführungsopfers löst ein gewaltiges Medieninteresse aus. Sarah hat zwiespältige Gefühle, nach all der Zeit verständlich. Sie hat eine harte Zeit hinter sich. Gerade war sie dabei, sich von der Vergangenheit zu lösen. Ihr Ehemann taucht, wenn man so will, zur Unzeit auf. Was wird werden? Gibt es eine gemeinsame Zukunft? Sie ist auf alles vorbereitet, nur auf das eine nicht: Der Mann, der aus dem Flugzeug steigt, ist nicht der, als der er sich ausgibt. Es ist nicht ihr Ehemann. Es ist ein Fremder - und er droht Sarah: Wenn sie ihn jetzt bloßstelle, werde sie alles verlieren: ihren Mann, ihr Kind, ihr ganzes scheinbar so perfektes Leben ... [Text & Cover: ©
btb Verlag]
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Ein Mann kommt nach Hause, und seine Frau erkennt ihn nicht mehr. Umgekehrt ist die panische Reaktion verständlich, denn der Fremde, der sich der Protagonistin vertraulich nähert, ist nicht jener, den sie geheiratet hat. Was ist hier los?
Diese Ausgangssituation haben Poznanski und Strobel jüngst zu einem Thriller mit dem Titel "Fremd" verarbeitet. Die kritischeren Rezensenten sind sich weitgehend einig: Die Ausarbeitung wird dem Potential des Stoffes nicht gerecht, zu naiv agiert die weibliche Hauptfigur, zu ratlos wirkt die Entwicklung des Plots, zu sehr an den Haaren herbeigezogen wirkt die Auflösung.
Melanie Raabes zweiter Roman wirkt nun, als hätte sie sich diese Kritik zu Herzen genommen und die Geschichte von Grund auf neu entworfen. Sie verzichtet auf seltsame Verschwörungstheorien und leinwandtaugliche Actionszenen, die beim deutsch-österreichischen Autorenduo den Eindruck erwecken, damit sollte Ratlosigkeit überbrückt werden. Raabe nutzt ihre Geschichte vielmehr wie ein Gelenk, mit dem sie den Bewegungsspielraum in alle Richtungen auslotet, ohne es unnatürlich zu verdrehen. Mit einer einer neuen Information ändert auch die Grundannahme, auf der die Geschichte fußt, schlägt die Handlung eine neue Richtung ein. Raabe achtet dabei auf die Schmerzsignale ihres narrativen Gelenks, um den Rahmen des Glaubwürdigen nicht zu verlassen. Als bewährtes Stilmittel dazu dient ihr das Spiel mit unzuverlässigen Erzählinstanzen. Sorgfältig wird die Glaubwürdigkeit einer jeden Figur infrage gestellt, die Elemente der Geschichte neu arrangiert, sodass am Ende aus den anfangs bekannten Mosaiksteinen ein gänzlich neues Bild entstanden ist.
Anstatt wie in "Fremd" die Größenordnung und damit beinahe auch das Genre zu wechseln, konzentriert sich "Die Wahrheit" ganz auf das Gefühlsleben der Hauptfigur Sarah, erfasst jede Nuance ihrer Stimmungen um so ein authentisches Bild ihres Charakters zu erzeugen, der die Parameter für ihre Handlungen definiert. Was den Roman zudem auszeichnet ist Raabes feines stilistisches Sensorium. Zu Beginn markiert ein neuer Haarschnitt die Zäsur im Leben der Hauptfigur, ein Symbol, das bereits auf dem Cover angedeutet ist.
Dazu heißt es: "Ich beweine meine Haare mit drei großen, stummen Tränen, die zu Boden fallen wie der erste Schnee des Winters." (S. 13)
Die Wahrnehmung der Protagonistin nimmt breiten Raum ein, findet sich doch das Innere im Äußeren gespiegelt. Eine Zäsur, ein Stimmungsumschwung wird etwa folgendermaßen eingeleitet:
"Alles blendet mich. Die Welt sieht anders aus als zuvor. Jemand hat einen Filter über sie gelegt, der alles verändert. Der Himmel ist blauer als zuvor, kobaltblau. Die Blätter an den Bäumen sind neongrün, das Sonnenlicht so hell, daß es mir in den Augen schmerzt (...)." (S. 54)
Und die Dissonanz, die sich mit dem Auftauchen jenes Mannes einstellt, der ihr so fremd erscheint, manifestiert sich folgendermaßen:
"Seine Präsenz hat von meinem Zuhause Besitz ergriffen, es ist wie ein tiefer Ton, den man mehr mit dem Bauch wahrnimmt als mit den Ohren und der macht, daß sich einem alle Körperhärchen aufstellen." (S. 253)
Persönliches Fazit
Melanie Raabes zweiter Roman ist ein feinfühliges Psychogramm einer Zweifelnden, das Wendungen bietet, die den Leser über den Rahmen der Geschichte hinauskatapultieren, aber sicher wieder landen lassen. Letztendlich ist es jedoch die Freude der Autorin am Spiel mit der Sprache, die ansteckt, die den Geist entflammt.
© Rezension: 2016, Wolfgang Brandner
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