Liebe Leserinnen und Leser, vielen Zeitgenossen hat das Feuerwerk in den ersten Sekunden des Jahres einen Stoßseufzer entlockt: 2016 ist überstanden. Ich nutze nun die Gelegenheit für einen ganz und gar
subjektiven Rückblick. Analog zu Kollege
Sebastians Rückblick werde ich mich mit den in archaischer Form übermittelten Geschichten widmen, den
Hörbüchern.
In dieser Hinsicht hielt das abgelaufene Jahr so viele
Kostbarkeiten bereit, dass ich eine Einschränkung auf fünf Titel wie
beim letzten Mal nicht mehr verantworten kann. Und auch, wenn
Ranglisten oft sensationslüstern als künstlicher Wettbewerb inszeniert werden, wage ich doch diese Form. Sie motiviert nämlich dazu, sich noch einmal in einer Weise mit den einzelnen Titeln auseinanderzusetzen, dass sie gegeneinander abgegrenzt, miteinander verglichen werden können. Anders ausgedrückt: Ich lade euch ein,
die besten Geschichten noch einmal mit mir im
Schnelldurchlauf zu erleben:
10. Owen Sheers: I Saw A Man
Ein Hörbuch, dessen Handlung sich in zwei Sätzen zusammenfassen lässt (lest dazu gerne meine
Rezension) und dennoch begeistert, das muss etwas Besonderes sein.
Wobei ... begeistern ist der falsche Begriff, der Autor verströmt keine Euphorie, er weckt Interesse an den unterschiedlichen Lebensgeschichten, die einander in diesem kurzen Moment begegnen, als das Mädchen das Gleichgewicht verliert und die Treppe hinunterstürzt. Und mit ihm geraten auch die Pläne, Wünsche, Ordnungen anderer Menschen aus ihrer Balance. Eine in angemessen nüchternem Tonfall vorgetragene Parabel auf das verästelte Netz aus Kontakten und Schicksalen, aus dem unsere Welt gesponnen ist.
9. Ramez Naam: Nexus
Wenn man an einem heißen Sommertag im Gebirge unterwegs ist, kein Blatt sich bewegt, man schon mit neugierigem Rotwild rechnen könnte ... und dann erschrocken zusammenzuckt, weil aus den Kopfhörern Uve Teschners schneidende Stimme peitscht ... dann ist das ein starkes Argument für das Hörbuch. Teschner reißt seine Hörer aus dem Alltag, wirft sie in das von einem KI-Experten entworfene Szenario einer möglichen Zukunft, geprägt von Regierungen, die sich nicht mehr mit den natürlichen Grenzen des Menschen zufriedengeben. Das Genre des Wissenschafts- und Technikthrillers lebt von fundierten Sachinformationen, verständlich aufbereitet und zu einer spannenden Geschichte verarbeitet. "Nexus" erkundigt sich außerdem bei Protagonisten und Hörern nach den ethischen Grenzen der Forschung und einem offensichtlich exakt auf das Thema vorbereiteten Sprecher. Authentisch genug, um mich letzten Sommer am steinigen Boden unter den Sohlen zweifeln zu lassen.
Meine vollständige Rezension zu diesem Hörbuch findet ihr
HIER.
8. Noah Hawley: Vor dem Fall
Ich bin mir nicht sicher, was ich mir erwartet habe, vermutlich wohl eine spannende Geschichte über einen Flugzeugabsturz und dessen Aufklärung, vielleicht eine Verschwörungstheorie eingestreut, vielleicht Geplänkel unter Geheimdiensten. Das Buch hat meine Erwartungen letzlich nicht erfüllt. Stattdessen wurde vor meinem inneren Auge ein Mosaik aus unterschiedlichen Lebensgeschichten gelegt, die sich nach und nach zu einem Gesamtbild vervollständigen. Die Lebenslinien unterschiedlicher Persönlichkeiten, eines Künstlers, eines Medientycoons, einer Stewardess, eines Piloten und seines Copiloten überschneiden sich in einer Katastrophe, die nur zwei von ihnen überleben. Das Ereignis wird medial ausgeschlachtet, die Pesonen zu willenlosen Puppen degradiert, die beiseite geworfen werden, wenn man ihrer überdrüssig ist. Noah Hawley erzählt zugleich feinsinnig und zynisch von Träumen, Hoffnungen, großen Plänen, zeichnet seine Figuren so differenziert, daß schlußendlich die Aufklärung des Unglücks nur mehr marginal interessant ist.
7. Monster 1983
Bereits meiner
Kolumne zum Jahresausklang habe ich von diesem Hörspiel geschwärmt, das die Tage meiner Kindheit wieder aufleben lässt. Die Besetzung liest sich wie eine Shortlist für die Nominierung zum besten Sprecher, neben David Nathan in der Hauptrolle, Ekkehardt Belle oder Luise Helm löst vor allem die befehlsgewohnte Stimme von Norbert Langer - bekannt als Synchronsprecher von Tom Selleck und Burt Reynolds - Erinnerungen aus. Das ausschließlich aus Filmen und Fernsehserien bekannte Amerika dieser Zeit bestand aus endlosen Highways, gemütlichen Diners und einem Sheriff als Verkörperung der Gerechtigkeit in jeder Stadt. Monster 1983 strapaziert ganz bewusst all diese Klischees, vernachlässigt dabei Realismus und Political Correctness und wirkt somit wie die x-te Wiederholung von MacGyver, The Goonies oder den Bud Spencer-Filmen.
6. Tess Gerritsen: Totenlied
Die amerikanische Autorin verläßt das vertraute Terrain des Bostoner Police Departments, um einfühlsam eine Geschichte zu erzählen, die ihr - wie sie angibt - persönlich am Herzen liegt. Und dabei handelt es sich nicht um ein vom Verlag neu aufgelegtes Frühwerk, das vom Erfolg der Rizzoli-Isles-Serie profitieren möchte. Wie bereits in meiner
ausführlichen Rezension festgestellt, ist die Beschreibung irreführend: Es ist kein Thriller über ein mordendes Kind oder eine verfluchte Partitur, sondern eine musikalische Reise in tieftraurigem Moll in das Venedig zur Zeit des Nationalsozialismus. Wenn auch Mechthild Großmann den Figuren diesmal nicht vollständig gerecht wird, fesselt doch die bewegende Handlung. Und ein von der Autorin selbst komponierter Walzer als akustischer Anhang, das wissen auch die wenigsten Hörbücher zu bieten.
Die Nummerierung von zehn bis sechs lässt es bereits erahnen:
The best is yet to come. Oder zumindest meine subjektive Auswahl der vertonten Titel aus dem Jahr 2016.
Jene fünf Hörbücher, die mich innerhalb der vergangenen zwölf Monate am stärksten beeindruckt, überrascht, mir nachhaltig in Erinnerung geblieben sind, findet ihr in zwei Wochen an dieser Stelle in der Kolumne "Aufgelesen".
Möget ihr bis dahin stets von einem ansprechenden Buch begleitet werden.
Kommentierfrage: Welche Hörbücher begeisterten euch im vergangenen Jahr besonders - und warum?
© Wolfgang Brandner
[wolfgang]