Hörbuch-Rezension. Fremd | Ursula Poznanski & Arno Strobel

Leider nur zu Beginn vielversprechend...

Stell dir vor, du bist allein zu Haus. Plötzlich steht ein Mann vor dir. Er behauptet, dein Lebensgefährte zu sein. Aber du hast keine Ahnung, wer er ist. Und nichts in deinem Zuhause deutet darauf hin, dass jemand bei dir wohnt. Er redet auf dich ein, dass du doch bitte zur Vernunft kommen sollst. Du hast Angst. Und du verspürst diesen unwiderstehlichen Drang, dich zu wehren. Ein Messer zu nehmen. Bist du verrückt geworden?
Stell dir vor, du kommst nach Hause, und deine Frau erkennt dich nicht. Sie hält dich für einen Einbrecher. Schlimmer noch, für einen Vergewaltiger. Dabei willst du sie doch nur beschützen. Aber sie wehrt sich, sie verbarrikadiert sich. Behauptet, dich niemals zuvor gesehen zu haben. Sie hält dich offensichtlich für verrückt. Bist du es womöglich?
Eine Frau. Ein Mann. Je mehr sie die Situation zu verstehen versuchen, desto verwirrender wird sie. Bald müssen sie erkennen, dass sie in Gefahr sind. In tödlicher Gefahr. Und es gibt nur eine Rettung: Sie müssen einander vertrauen... [Text + Cover: Argon Verlag]

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Zwei erfahrene Thrillerautoren widmen sich gemeinsam einer Geschichte und beleuchten diese aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Eine Form der kreativen Arbeitsteilung also, so, als würden ein Thrillerautor und ein Pathologe kooperieren. Beide sind auf ihre ganz eigene Weise versiert, die eine mit mystisch angehauchten Jugend- und Regionalkrimis, der andere mit Figuren, die sich ihrer selbst nicht mehr sicher sind. Aber stacheln diese beiden Erzählexperten sich nun gegenseitig zu Höchstleistungen an, oder sabotieren sie einander in bester Absicht?

Zumindest die Ausgangssituation ist vielversprechend: Eine junge Frau trifft in ihrer Wohnung einen ihr Unbekannten, der eine gemeinsame Vergangenheit beschwört, an die sie sich nicht erinnern kann. Seine Geschichte klingt plausibel, doch er kann sie nicht beweisen, denn es finden sich weder seine Zahnbürste im Badezimmer noch seine Socken in der Kommode. Dem Leser ist also klar, daß er zumindest mit einem sogenannten unzuverlässigen Erzähler konfrontiert ist. Aber welcher von beiden ist es, Joana oder Erik? Wessen Version ist die wahre? Oder darf am Ende keinem der beiden vertraut werden? Immerhin wird abwechselnd in erster Person erzählt, eine neutrale Sicht von außen wird geschickterweise bewußt vorenthalten. Während somit auf lange Sicht die Umstände dieses fundamentalen Auffassungsunterschiedes aufzuklären sind, müssen die beiden für den Moment dazu bewegt werden, einander zu vertrauen. Und das bewerkstelligt man am wirkungsvollsten durch eine Bedrohung von außen.

Ziemlich rasch wird die Aufmerksamkeit auf Ungereimtheiten an Eriks Arbeitsplatz gelenkt, wo ihm als Leiter der IT-Abteilung mit fadenscheinigen Argumenten die Mitwirkung an einem streng geheimen Projekt vorenthalten wird. Sein Vorgesetzter ist in dubiose Machenschaften verstrickt, und auch die Loyalität der gemeinsamen Freunde von Joana und Erik darf lustvoll rätselnd bezweifelt werden. An diesem Punkt in der Entwicklung des Plots fühlten sich die beiden Autoren vermutlich wie Hänsel und Gretel, die sich in einen Wald aus Erzählelementen mit hohem Spannungspotential gewagt hatten und nun einen möglichst plausiblen Ausweg finden mußten. Verständlicherweise keine leichte Aufgabe, und so spielen Poznanski und Strobel zunächst auf Zeit. Handlungsmuster beginnen sich zu wiederholen, immer wieder wird das gegenseitige Vertrauen der beiden Protagonisten erschüttert und muß neu aufgebaut werden, immer fadenscheiniger werden die Vorwände, sich nicht an die Polizei zu wenden.

Schließlich wird der Erklärungsbedarf so akut, daß die Autoren sich zur Ablenkung in spektakuläre Action flüchten. Am Münchener Hauptbahnhof detoniert eine Bombe und sprengt damit auch den Rahmen der Geschichte. Plötzlich wird der Kontext von möglicher Betriebsspionage im Hochtechnologiebereich hin zu brachialem Terrorismus verschoben. Vielleicht setzen die Autoren darauf, durch die derzeitige mediale Berichterstattung fundamentalistisch motivierte Anschläge als Stereotyp für eine nicht mehr steigerbare Bedrohung nutzen zu können, vielleicht war der Zeitdruck zur Veröffentlichung des Buches schon spürbar, jedenfalls entsteht der Eindruck eines schmerzhaften Stilbruchs zum Zwecke der Simplifizierung. Die Auflösung der Geschichte erinnert schließlich an die vielköpfige Hydra aus der griechischen Mythologie, der für einen abgeschlagenen Kopf zwei neue nachwachsen. Die grundsätzliche Frage, wie Joanna ihren Verlobten für einen Fremden hält, wird zwar beantwortet, dafür werden neue Ungereimtheiten aufgeworfen. Schließlich werden die Ereignisse in einem entbehrlichen Epilog als Teil einer deutschnationalen Verschwörung entlarvt ... was von der argumentativen Qualität mit der Faust vergleichbar ist, mit der zur Beendigung eines Gesprächs auf den Tisch geschlagen wird.

Der Roman "Fremd" wird abwechselnd von den beiden Hauptfiguren aus ihrer jeweiligen Sicht erzählt. Jeder der beiden spricht mit seiner eigenen Stimme, die Rollenverteilung zwischen Poznanski und Strobel als Autorin und Autor ist ideal geglückt. In der Hörbuchfassung werden diese Stimmen tatsächlich hörbar, die Unterscheidung somit noch deutlicher, die Figuren schärfer gegeneinander abgegrenzt. Wo jedoch Christiane Marx die Ängste, Zweifel und oft auch irrationalen Entscheidungen der ihr zugewiesenen Joana mit Leben erfüllt, scheint Sascha Rothermund die Perspektive nicht zu liegen. Seine angenehm unaufdringliche Erzählweise ist ein Vergnügen, wenn komplexe Zusammenhänge enthüllt werden. Rothermund ist definitiv eine der besten Stimmen für Romane aus der Vogelperspektive, einer einzelnen aus der eigenen Sicht erzählenden Figur vermag er jedoch nicht ausreichend Emotion zu verleihen.

Persönliches Fazit

Der Funken eine vielversprechenden Idee vermochte bei den Autoren leider kein Begeisterungsfeuer zu entfachen, zu unmotiviert wirken die Wiederholungen in der Handlung, zu erzwungen die Auflösung.

(c) Rezension 2015, Wolfgang Brandner

Fremd | Ursula Poznanski | Arno Strobel
Argon Hörbuch | 30. Oktober 2015 | ISBN: 978-3-8398-1433-8
7 Stunden, 6 CDs | Autorisierte Lesefassung | Sprecher: Sascha Rothermund, Christiane Marx


[wolfgang]

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