Rezension: Wie der Atem in uns | Elisabeth Poliner



Die Leibritzkys sind eine jüdische Großfamilie und einander in inniger Hassliebe verbunden. Jedes Jahr fahren sie gemeinsam in ihr Sommerhaus ans Meer, nach Woodmont in Connecticut. Bis ein tödlicher Autounfall alles für immer ändert. David Leibritzky ist erst acht Jahre alt, als er sterben muss. Das Jahr 1948, in dem er umkommt, ist das Jahr der Unabhängigkeit Israels. Doch frei wird keiner der Leibritzkys je mehr sein.

Rund fünfzig Jahre später versucht die ältere Schwester Molly die Ereignisse zu ergründen, die zu Davids Tod geführt haben. Sie umkreist den einen Tag, den sie alle nicht vergessen können, und spürt dabei der Geschichte ihrer Familie nach. Sie erzählt von drei Schwestern, die füreinander einstehen und sich doch gegenseitig verletzen, von der Auseinandersetzung mit dem schweren Erbe der Religion und der Unentrinnbarkeit familiärer Bande. [© Text und Cover: DuMont Buchverlag]

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Das Zentrum dieser Familiengeschichte bilden die drei Schwestern Vivie, Ada und Bec. Sie führen die Tradition ihrer Eltern fort und treffen sich jeden Sommer mit ihrem Anhang in ihrem Haus am Meer. Alles wirkt eingespielt und friedlich, jeder kennt seinen Platz und seine Rolle. Wie in den meisten Familien trügt dieses Bild allerdings. Molly, Adas Tochter, erzählt fokussiert über jeden einzelnen von ihnen. Dabei springt sie in der Zeit mal zurück und mal nach vorne und charakterisiert ihre Verwandten dabei intensiv. Sie spürt die Ängste und Träume auf und definiert die Beziehungen untereinander. Dabei kommt kein großes Erzähltempo auf, aber ich gewinne einen sehr guten Eindruck über die komplexen emotionalen Zusammenhänge.

Von Anfang an ist klar, dass Davys Tod in jenem Sommer eine wichtige Rolle spielt. Auch wenn das Ereignis selbst nur selten direkt angesprochen wird, ist es doch meist latent im Bewusstsein der Protagonisten wie auch mir als Leser. Wie ein roter Faden zieht sich das durch das Buch, und am Ende werden mir die Auswirkungen dieses tragischen Tages auf die Beteiligten klar.

Ein wesentlicher Zusammenhalt der Familie ist die Religion. Auch im Sommerhaus wird freitags der Schabbat gefeiert. Für die Juden fällt das Jahr 1948 in eine besondere Zeit: der Krieg ist noch nicht lange vorbei, das Ausmaß der Gräuel der Nazis sind noch nicht lange bekannt, und der Staat Israel wurde gegründet. Die Ausgrenzung gibt es auch in anderen Kulturkreisen noch. Die Großeltern der drei Schwestern wurden in Russland mehrmals vertrieben, bevor sie nach Amerika ausgewandert sind. Das schweißt einerseits zusammen, andererseits muss man sich an die Regeln halten.

„Doch so ist es in Familien: Sie sagen uns, was wir sind, und das sind wir dann, und deshalb besteht ein Teil des großen Lebenskampfes darin, so kam es mir immer vor, sich jenseits der Last der erdrückenden kollektiven Definition selbst kennenzulernen." (S. 88)

Unbeschwert sind die Wochen, die die Familie in Woodmont vor dem Unfall verbringt. Der Autorin gelingt es gut, diese leichte Atmosphäre durch ihre Sprache einzufangen. Molly, Adas Tochter, die uns die Geschichte erzählt, ist damals zwölf Jahre alt. Gerade aus Sicht der Kinder sind das wunderbare Tage im Kreis der Familie, mit Geschwistern und Cousine, mit Freunden am Strand, behütet von Eltern, Tanten und Onkeln. Wer wünscht sich nicht in so eine Zeit zurück? Kann es das nach Davys Tod noch geben?

Persönliches Fazit

Ein Familienporträt mit dramatischem Unterton. Die Erzählweise ist ruhig, dafür werden die Protagonisten intensiv charakterisiert. Mir gefällt es sehr gut, wie Elizabeth Poliner die damalige Zeit und die sommerliche Atmosphäre einfängt. Eine Geschichte, die sehr wirklichkeitsnah und ohne Effekthascherei erzählt wird.

© Rezension: 2016, Marcus Kufner


Wie der Atem in uns | Elizabeth Poliner | DuMont Buchverlag
Aus dem Englischen von Maja Ueberle-Pfaff
2016, gebunden, 428 Seiten, ISBN: 9783832198176


[marcus]

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