Fabian Fohrbeck, Professor der Kulturwissenschaften, verliert mit 62 Jahren den Boden unter den Füßen. Seine langjährige Frau und Seelenverwandte Dorothea ist überraschend gestorben, an der Uni droht ihm wegen Sparmaßnahmen die Stellenstreichung, er bäumt sich auf – und bricht fast zusammen.
Fohrbeck findet sich in einer psychosomatischen Rehaklinik wieder, widerwillig zwar, aber auch neugierig. In den Gesprächen mit seiner Therapeutin entsteht ein vielschichtiges und liebevolles Bild von Dorothea und dem gemeinsamen Leben. Die Trauer um seine Frau geht einher mit einer spannenden Selbsterkundung, die in die verdrängten Zonen seiner eigenen Familiengeschichte führt. Zugleich lernt er nach und nach seine Mitpatienten kennen. Überraschend viele von ihnen sind abgekämpft, erschöpft, ausgebrannt, ein Spiegelbild der modernen Arbeitswelt. Fohrbeck wird klar, dass der fehlgeleitete Umgang mit der Zeit ein Grund für diese Entwicklung sein muss. Leistungsdenken, Selbstoptimierung und Beschleunigung sind die bestimmenden Faktoren unserer Zeit, aber es gibt neue Glücksverheißungen – auch für ihn. Die Begegnung mit der charismatischen Tanztherapeutin und Sängerin Lea wird für Fabian zu einer erotischen Obsession, die ihn auf neue Höhen, aber auch in Abgründe führt. [© Text und Bild:
Verlag Kiepenheuer & Witsch]
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mk] Noch nie war der Leistungsdruck so groß wie heutzutage. Egal ob in Beruf, Familie oder Freizeit, alles wird optimiert, die Anforderungen auch an sich selbst sind enorm. Seit Jahren werden immer öfter Burnout und Depression diagnostiziert. Was passiert, wenn man irgendwann nicht mehr funktioniert?
So geht es Fabian, der nach dem Tod seiner Frau auch noch um seine berufliche Existenz kämpfen muss. Er checkt in einer Rehaklinik ein, wo er verschiedene Therapieformen und Entspannungstechniken wie Qigong, Klangtherapie, Gruppen- und Einzeltherapie kennenlernt. Vieles davon hilft ihm, sei es die bewusste „Entschleunigung", die Beschäftigung mit sich selbst oder die Analyse seiner Kindheit im Einzelgespräch. Hier springt Michael Schneider immer wieder in der Zeit zurück und Fabian beschreibt die Konflikte zwischen seiner Generation und der Nachkriegsgeneration seiner Eltern. Dabei werden erstaunliche Auswirkungen auf sein heutiges Leben sichtbar.
Der Kern des Buchs ist die Verarbeitung des plötzlichen Todes von Fabians Frau Dorothea.
Nach dreißig Jahren Zusammenleben ist es für ihn, als wenn eine Hälfte von ihm gestorben wäre. Eine Symbiose, die untrennbar schien, ist aufgelöst. En detail wird in der Therapie erörtert, welche Bedeutung sie für ihn hatte, dass er es schätzen sollte, über viele Jahre eine so glückliche Ehe geführt zu haben. Das ist wahrlich nichts Selbstverständliches. Umso erstaunlicher, auch für Fabian selbst, dass er sich acht Monate nach Dorotheas Tod Hals über Kopf in Lea verliebt, die als Musiktherapeutin in der Rehaklinik tätig ist. Nicht nur nach außen, auch sich selbst gegenüber hält er das für ziemlich unangebracht, aber Alter schützt vor Liebe nicht! Soll er sich tatsächlich darauf einlassen, dieser Schwärmerei für die wesentlich jüngere Lea nachzugeben?
„Ein zweites Leben" ist aber weit mehr als ein Buch über die Verarbeitung des Verlusts eines geliebten Menschen. Im Kreise der Mitpatienten oder auch mit den Kollegen an der Uni werden intensive und lebendige Diskussionen über soziologische und wirtschaftspolitische Themen geführt. Michael Schneider nutzt das, um Dinge wie die Finanzmarktkrise, das System des Kapitalismus oder Digitalisierung kritisch zu beleuchten. Das macht er mit einem klaren Geist, er deckt so manche Paradoxie auf und lässt mir viel Spielraum, mich selbst bei diesen Fragen zu positionieren und zu hinterfragen.
Das Buch ist eine Mischung aus Sachbuch, Autobiografie und Roman. Der Stil ist, trotz der beinhalteten Emotionen, sehr sachlich. Fabian kommt mir dabei relativ distanziert vor, auch wenn es mal um Wut oder Leidenschaft geht. Die autobiografischen Einflüsse bringen viele Details ins Buch und machen es dadurch sehr glaubwürdig. Die eingängige Sprache macht es einfach, die Gedankengänge und Gefühlswelten nachzuvollziehen.
PERSÖNLICHES FAZIT
Ich gehöre (noch) nicht zur „silbernen Generation", trotzdem konnte ich hier gut nachempfinden was es bedeutet, seinen Partner zu verlieren, der einen seit Jahrzehnten begleitet hat. Die Beschreibung des Klinikaufenthalts, die psychologischen Analysen und vielfältigen therapeutischen Ansätze fand ich sehr interessant. „Ein zweites Leben" ist aber noch viel mehr: was Michael Schneider an Diskussionen über soziologische und wirtschaftspolitische Themen einbringt, spiegelt vieles der heutigen Gesellschaft wider. Ein gehaltvolles Werk, das mich um viele Denkansätze bereichert hat.
© Rezension: 2016, Marcus Kufner
Ein zweites Leben | Michael Schneider | Verlag Kiepenheuer & Witsch*
10.03.2016, gebunden, 560 Seiten, ISBN: 9783462048865
[marcus]