Rezension: LÖWEN WECKEN | AYELET GUNDAR-GOSHEN


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Ein Neurochirurg überfährt einen illegalen Einwanderer. Es gibt keine Zeugen, und der Mann wird ohnehin sterben - warum also die Karriere gefährden und den Unfall melden? Doch tags darauf steht die Frau des Opfers vor der Haustür des Arztes und macht ihm einen Vorschlag, der sein geordnetes Leben komplett aus der Bahn wirft. Wie hätte man selbst in einer solchen Situation gehandelt? Diese Frage schwebt über dem Roman, der die Grenzen zwischen Liebe und Hass, Schuld und Vergebung und Gut und Böse meisterhaft auslotet. [© Text und Bild: Kein & Aber Verlag]

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[mk] Es gibt Situationen, wo man vorher nicht weiß, wie man selber reagieren würde. In eine solche Situation gerät Etan, als er eines Nachts auf der Landstraße einen Menschen überfährt. Er ist keineswegs so abgeklärt, dass er ihn einfach liegen lässt. Er steigt aus, um sich um den Mann zu kümmern. Als Arzt erkennt er allerdings, dass der nicht mehr zu retten ist. Natürlich sagt eine Stimme in ihm, er solle in der Klinik anrufen, sie sollen einen Krankenwagen schicken. Aber was dann? Was würde ein Richter sagen, wenn ein Arzt nach zwanzig Stunden Dienst mit überhöhter Geschwindigkeit über die Landstraße rast? Wenn er auch mit einer milden Strafe wegkäme, seine Karriere wäre zu Ende. Also lässt er das Opfer am Straßenrand liegen und fährt nach Hause zu seiner Frau und den Kindern, wohl wissend, dass dieses Ereignis ihn noch sehr beschäftigen wird.

Doch noch bevor er am nächsten Tag mit der Verarbeitung des Geschehenen beginnen kann, steht schon die Ehefrau des Getöteten mit seinem Geldbeutel vor seiner Haustür. Für ihr Schweigen verlangt sie von ihm, nach Feierabend in einer stillgelegten Werkstatt verletzte und kranke Flüchtlinge zu behandeln. Und somit arbeitet er ab sofort zusätzlich nachts, geheimgehalten vor seinen Kollegen und der Familie. Klar, dass das auf Dauer nicht gutgehen kann, ständig übermüdet und kaum noch Zeit zu Hause. Und dass seine Frau als Kriminalbeamtin im Fall der Fahrerflucht fahndet, macht es nicht einfacher (aber spannender!).

Die Sicht auf Israel ist durch die Medien sehr stark auf den Konflikt mit den Palästinensern geprägt. In diesem Roman spielt dieser keine Rolle, statt dessen gerät der Fokus auf afrikanische Flüchtlinge. Das Unfallopfer stammt aus Eritrea, ein Land, das erst 1991 gegründet worden ist und stark belastet ist von Menschenrechtsverletzungen. Als illegale Einwanderer in Israel haben sie keine Papiere, arbeiten schwarz als Putzhilfe oder Tellerwäscher und können kein Krankenhaus aufsuchen, da ihnen sonst die Abschiebung droht. Gekonnt verknüpft die Autorin das Schicksal der Witwe mit Etans Familie und vermittelt dabei differenziert das Schicksal der Flüchtlinge.

Der Plot ist sehr stimmig und glaubhaft inszeniert. Immer wenn Etan meint, mit der Situation zurecht zu kommen, brechen wieder neue Probleme auf. Das hält mich von Anfang an bei der Stange. Vor allem ist es aber der Schreibstil von Ayelet Gundar-Goshen, der mich begeistert. Ich habe das Gefühl, dass egal worüber sie schreibt, es immer interessant zu lesen sein wird. Die Wortwahl, die detaillierten Beschreibungen und die Intensität der Gedankengänge sind äußerst bemerkenswert. 

PERSÖNLICHES FAZIT

Der Roman gibt mir einen Einblick in ein besonderes Land und vermittelt mir das Schicksal afrikanischer Flüchtlinge in Israel. Und das verbunden mit einer sehr spannenden Geschichte, einem Unfall, nachdem sich für Etan schlagartig alles ändert. Das und der hervorragende Schreibstil machen das Buch zu einem großen Lesegenuss.

© Rezension: 2016, Marcus Kufner


Löwen wecken | Ayelet Gundar-Goshen | Kein & Aber Verlag

Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama
2015, gebunden, 432 Seiten, ISBN: 9783036957142


[marcus]

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