Rezension: Watch Me. Ich werde es wieder tun | James Carol

 Cover-Watch me-James Carol
Er zieht rastlos um die Welt, immer auf der Jagd nach perfiden Serientätern, die er zur Strecke bringen muss: der Profiler Jefferson Winter. Exzentrisch, hochintelligent - und gnadenlos von seinen eigenen Dämonen verfolgt.
Eine Kleinstadt in Louisiana: Ohne erkennbares Motiv wird ein Anwalt bei lebendigem Leib verbrannt. Weder ist der Tatort bekannt noch hat man die Leiche gefunden. Doch ein Video der Tat wird ins Netz gestellt, mit einem automatisierten Countdown. Eins ist klar: Es wird weitere Opfer geben. Und Jefferson Winter bleiben gerade mal 13 Stunden Zeit bis zur tödlichen Deadline. [Text und Cover: dtv Verlag]

[SPOILERWARNUNG] Im folgenden Text wird sowohl auf den ersten Band von James Carol, "Broken Dolls" als auch auf "Watch Me" inhaltlich Bezug genommen. Die Kenntnis der beiden Romane ist also für die Lektüre dieser Rezension zu empfehlen.

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[wb] "Du bist wie ich" Dies waren die letzten Worte, die Jefferson Winter von seinem Vater hörte, bevor dieser als verurteilter Serienmörder hingerichtet wurde. An diesem schweren genetischen Erbe hat er nun sein Leben lang zu schleppen und ist wild entschlossen, die damit verbundene Schuld adäquat abzutragen: Seine außergewöhnlich hohe Intelligenz gepaart mit Verbitterung und Zynismus setzt er ein, um Gewaltverbrecher zur Strecke zu bringen. Welchen Anteil an seiner Motivation dabei ehrliches Gerechtigkeitsempfinden und welchen der verzweifelte Wunsch, die These seines Vaters zu widerlegen, einnimmt, wird vom Autor bewußt offen gelassen. Diese Interpretation wird dem Leser überlassen, der seine Schlüsse aus den Handlungen und Entscheidungen Winters zieht, die Figur immer wieder neu bewertet. Tatsächlich gelingt es dem Autor, im Spannungsfeld einerseits des Grundbedürfnisses, dem Vater nachzueifern und andererseits eben diesen Weg zu vermeiden, einen faszinierend kontroversiellen Charakter zu erschaffen, der in der Menge aktueller Ermittlerpersönlichkeiten im Thriller-Genre erfrischend individuell wirkt.

Leser des ersten Teils, "Broken Dolls", werden sich natürlich an die Eigenheiten des traumatisierten Ex-FBI-Agenten erinnern. Im vollen Bewußtsein, mit größeren intellektuellen Kapazitäten als die Mehrheit seiner Zeitgenossen gesegnet zu sein, gibt er sich diesen gegenüber bekannt rechthaberisch und verbringt viel Zeit damit, deren Wissenslücken dozierend aufzufüllen. Zu diesen Attributen, die ihn als Sympathieträger nicht sonderlich prädestinieren, läßt ihn sein  messerscharfer Verstand in jeder Situation einen oft zu kühlen Kopf bewahren. In einer menschlich berührenden Situation erlaubt er sich keinen Moment der Schwäche und reagiert mit distanzierter Logik, was ihn eher als Maschine, denn als Mensch erscheinen läßt. Diese mechanische Präzision und die offen zur Schau gestellte Überlegenheit sind es auch, die beim Leser ambivalente Gefühle hervorrufen: Einerseits wirken die oft nicht notwendigen Ausführungen zu beliebigen Themen Leser anstrengend und enervierend, andererseits bereitet es ein beinahe unanständiges Vergnügen, an der Verbrecherjagd auf der Schulter des Riesen teilzunehmen. Je grausamer die Tat, desto unerbittlicher ist Winter auf seiner Jagd.

Seinem Ruf als ausgesprochener Genußmensch, den er sich ebenfalls bereits im Vorgängerband erworben hat, wird Winter mit kleinen Variationen auch diesmal wieder gerecht. Nach wie vor raucht er teure Zigarren und genießt erlesene Kaffeesorten, über deren Herkunft er natürlich lange referiert. Außerdem nutzt er jede Gelegenheit, sich seinem Lieblingskomponisten Wolfgang Amadeus Mozart hinzugeben. Vom Klarinettenkonzert, über die Prager und die Jupiter-Symphonie reicht das Repertoire bis hin zur "Hochzeit des Figaro". (Eine entsprechende musikalische Begleitung wäre dem Lesegenuß gewiß zuträglich.) Für Winter stellt diese Musik einen temporären Rückzug aus dem Wahnsinn der Welt dar, in seinen Worten: "Wenn Sie sich gefühlsmäßig darauf einlassen, macht Sie das kaputt."

Auch die Handlung wird notwendigerweise an jener in "Broken Dolls" gemessen, wo Jefferson Winter einen Übeltäter zur Strecke bringen mußte, der seine weiblichen Opfer eine Lobotomie, der Zerstörung des Seelenlebens durch einen chirurgischen Eingriff am Gehirn, unterzog. Die endlos langen Momente physischer und psychischer Folter, die verzweifelte Hoffnung und die abgrundtiefe Enttäuschung der Opfer verliehen dem Roman ein Ausmaß an Spannung, das nun als Meßlatte für "Watch Me" dienen muß. Tatsächlich kann der aktuelle Band diese emotionale Intensität nur sehr schwer erreichen. Ein grausames Verbrechen - ein Mann wird bei lebendigem Leib verbrannt - bildet die Ausgangssituation, und ein Countdown bis zum nächsten Mord sorgt für Zeitdruck. Jedoch wirkt die spektakulär inszenierte Hinrichtung im Vergleich abstrakt, und auch Winter findet sich logisch-kühl damit ab, daß ein mögliches zweites Opfer nicht zu retten sein wird, was auch die Dringlichkeit der Suche relativiert. Letztendlich erweist sich die Deadline als ein Bluff, der angekündigte zweite Mord findet nicht statt. Der Rest des Romans gestaltet sich als entspannte Detektivarbeit durch logische Schlussfolgerungen, eine Vorgehensweise, wie sie aus den Klassikern von Agatha Christie oder Sir Arthur C. Doyle bekannt ist. Winters Anekdoten und Exkurse etwa über Inneneinrichtung oder die Imbißauswahl von Kleinstadtcops verwässern die Geschichte an dieser Stelle eher, als daß sie für Fortschritt sorgen.

Ein zentrales Element in "Broken Dolls" stellte Winters fatale Fehleinschätzung der Situation dar, eine mögliche verhaltene Schadenfreude des Lesers, das Genie beim Scheitern zu beobachten, wurde also bereits ausgenutzt. Daß eine derartige Wendung kaum noch zu überbieten war, dürfte dem Autor klar gewesen sein, somit nutzt er in "Watch Me" eine wesentlich harmlosere, charmantere Art, eine intellektuelle Achillesferse zu suchen. In Hannah, der Freundin seines Partners Taylor scheint er nämlich eine Gesprächspartnerin gefunden zu haben, die ihm in puncto Beobachtungsgabe und logischem Denkvermögen nur wenig nachsteht. Zudem erlaubt es ihre Position außerhalb der polizeilichen Hierarchie, ihn respektlos auf etwaige Unzulänglichkeiten in seinen Folgerungen hinzuweisen und ihm deutlich seinen Mangel an Empathie vorzuwerfen. Als ein Running Gag durchzieht weiters die verzweifelte Suche Winters nach dem Vornamen seines Partners den Roman. Der Autor weicht somit geschickt etwaigen überhöhten Erwartungen seiner Leser nach dem ersten Teil aus und ersetzt die Brisanz der Handlung durch Humor.

Persönliches Fazit

In bekannter Manier arrogant, besserwisserisch und hedonistisch ermittelt Jefferson Winter in seinem zweiten Fall, der wohl eher unfreiwillig zu einer modernen Hommage an Hercule Poirot gerät.

© Rezension, 2015 Wolfgang Brandner



Watch Me | James Carol | dtv Verlag
Deutsch von Wolfram Ströle
2015, 384 Seiten, ISBN 978-3-423-21595-4

[wolfgang]

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