AUFGELESEN #7
Liebe Leserin, lieber Leser,
kennst Du das Gefühl, einem Autor eine Nasenlänge voraus zu sein, diese diebische Freude, die einen befällt, wenn man sich nicht hinter's Licht führen läßt?
Ein Mal.
Ein einziges Mal.
Nur ein einziges Mal ist es dem Verfasser dieser Zeilen gelungen, jener Dame auf die Schliche zu kommen, die im Zentrum dieser Ausgabe von "Aufgelesen" steht.
Sie wurde am 15. September 1890 in Torquay in der Grafschaft Devon im Südwesten Englands geboren, womit sich ihr Geburtstag heuer
zum 125. Mal (
www.agathachristie125.de)
gejährt hat. Sie wuchs in gutbürgerlichen Verhältnissen in einer herrschaftlichen Villa auf und wurde bis zum 16. Lebensjahr außerschulisch unterrichtet.
Ihr erster Roman, "
Das fehlende Glied der Kette", erschien 1920, der ihr zu frühem Ruhm verhalf. Familiäre Schicksalsschläge und eine gescheiterte Ehe bildeten ein Zäsur in ihrem Leben, im Jahr 1926 war sie eine Zeitlang wie vom Erdboden verschluckt und konnte erst nach mehrtägiger Suchaktion in einem Hotel gefunden werden. Diese kurze Lücke in ihrer Biographie verleiht seitdem auch ihrer Person den Nimbus des Rätselhaften. Zahlreiche Reisen führten die Dame im weiteren Verlauf in den Nahen Osten, Afrika und die Karibik, im Zuge derer sie ihren zukünftigen zweiten Gatten, den Archäologen Max Mallowan kennenlernte. Die mannigfaltigen Eindrücke führten zu einer ebensolchen Vielfalt in ihrem Werk, die teils exotischen Schauplätze wurden in ihre Kriminalgeschichten, Liebesromane und sogar Bühnenstücke kreativ eingewoben. Am 12. Jänner 1976 verstarb die renommierte Autorin an einem Schlaganfall in der Grafschaft Oxfordshire, ein Jahr darauf erschien posthum ihre Autobiographie unter dem Titel "
Meine gute alte Zeit".
Bestimmt hast Du bereits erraten, um wen es sich hier handelt, der Taufname der gesuchten Autorin lautet Agatha Mary Clarissa Miller, nach ihrer Eheschließung mit dem Luftwaffeoffizier Archibald Christie nahm sie jenen Namen an, der auf ihren Romanen zu finden ist. Sie gilt als Mutter der Whodunit-Geschichten, also jener Rätselkrimis, in denen zu Beginn jener Mord steht, der als Handlung aufgeklärt werden muß. Der Name "Whodunit" leitet sich übrigens aus der englischen Frage "Wo done it?", also "Wer hat's getan?" ab.
Agatha Christie verstand sich meisterhaft auf diese Form. Die bis heute ungebrochene Faszination für sie besteht nicht zuletzt in der spätviktorianischen Atmosphäre, von der ihre Geschichten durchzogen sind. Da müssen sich gesetzte adelige Herren spätabends im Schlafanzug durch schwere Vorhänge kämpfen um einen Blick auf die weiten Gärten unter ihren Fenstern zu erheischen, da dominiert ein gediegener Kachelofen den Salon, in den pünklich der Fünfuhrtee von uniformierten Dienstboten serviert wird. Spätestens dann ziehen sich die Damen zurück, um die pfeiferauchenden Herren ihren Diskussionen über Politik und Wirtschaft zu überlassen. Als urbanes Zentrum gilt ein von der Industriellen Revolution grau gefärbtes London, wo Pferdekutschen über Kopfsteinpflaster klappern und sich in dunklen Seitengassen allerhand Übles zusammenbraut. Oft an die Spitze getriebene Etikette gilt nicht wie heute als elitärer Anachronismus sondern als Regel, ein Verstoß gegen sie wiegt oft schlimmer als das aufzuklärende Verbrechen. Vielleicht ist Agatha Christie genau deshalb nach wie vor so beliebt, weil sie uns ein Stück heiler, nach außen abgeschotteter Welt erschafft, deren Ordnung durch kluges logisches Schließen wiederhergestellt werden kann und in die wir uns bei Bedarf zurückziehen können. Vielleicht liegt es aber auch am Zusammentreffen schrulliger Charaktere, die allesamt am Silvestertisch von Miss Sophie in "Dinner for One" Platz nehmen könnten.
Tatsächlich bereits noch vor Ende der Geschichte deren Lösung zu finden, ist ein besonderes persönliches Erfolgserlebnis, das dem Verfasser dieser Zeilen, wie eingangs erwähnt, ein Mal zuteil wurde. Dazu wirkt das Verständnis der französischen Redewendungen des Detektivs Hercule Poirot zudem wie die Aufnahme in einen Londoner Herrenclub. Dieser Belgier, der sich stets lautstark dagegen wehrt, für einen Franzosen gehalten zu werden, sowie die altjungferliche Miss Marple haben das öffentliche Bild Christies maßgeblich geprägt, Schauplätze wie der Orientexpress oder der Nil als Kreuzfahrtsdestination sind untrennbar mit ihrem Namen verbunden. Obwohl Poirot durch seine Beliebtheit zu ihrer Haupteinnahmequelle wurde, zeigt sich die Autorin zunehmend von ihrer Figur vereinnahmt, er sei ihr sogar "zum Hals herausgehangen", wie ihr Enkel in einem Interview mit einer britischen Zeitschrift angab.
Immerhin wurde Poirot im 1975 erschienenen Roman "
Vorhang" in den literarischen Tod geschickt, daß das Ableben populärer Figuren jedoch selten endgültig ist, bewies die britische Autorin Sophie Hannah. Nachdem sie von Christies Nachlaßverwaltern die Erlaubnis erhalten hatte, erschien 2014 mit "
Die Monogramm Morde" ein neuer Fall für den belgischen Privatdetektiv. Ebenfalls eine Modernisierung der angenehmen Art betreibt der Atlantik-Verlag, der sich zum Ziel gesetzt hat, jenes entwertende Bild, das sich aus zum Kilopreis verkauften abgegriffenen Taschenbuchausgaben ergibt. Nach und nach erscheinen seit September 2014 die deutschen Ausgaben der Romane Agatha Christies
in ansprechenden Neuauflagen - womit sie bereit sind, von der nächsten Generation an Wohnzimmerdetektiven neu entdeckt zu werden.
Liebe Leserin, lieber Leser, kennst Du Agatha Christie bereits, oder hast Du Dir vorgenommen, dich mit den aktuellen Ausgaben zu beschäftigen? Und vor allem, welche der beiden Figuren - Miss Marple oder Hercule Poirot - findest Du sympathischer?
Freudiges Weiterlesen!
© Wolfgang Brandner
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Ein kleiner Blick auf einen Teil der neuen Auflage aus dem Atlantik Verlag / Hoffmann und Campe |
Labels: Aufgelesen, Kolumne