AUFGELESEN #6
Liebe Leserin, lieber Leser, wer bist Du?
Bist Du tatsächlich Du selbst, und wenn ja, worauf begründet sich diese Sicherheit? Kannst Du den Erinnerungen, aus denen sich Dein gegenwärtiges Bewußtsein konstituiert, tatsächlich vertrauen? In der letzten Ausgabe der Kolumne Aufgelesen wurden einige Vertreter des deutschen Psychothrillers genannt, die lustvoll leichtfertig an jener Lunte zündeln, die zum Pulverfaß der Angst in unserem Inneren führt.
Solltest Du allerdings zu jenen gehören, die von solch abstrakt-akademischen Diskussionen nichts wissen wollen, darf ich Dir nun Handfesteres präsentieren.
Nachdem also - wie es bereits im antiken Rom hieß - der Mensch des Menschen Wolf ist, nach Macht und Unterwerfung anderer strebt, stets seinen Vorteil sucht und dabei jedoch von Maschinen übertölpelt wird und mit einem instabilen Fundament an Eigendefinition ausgestattet ist, können wir da wenigstens Mutter Natur vertrauen?
"Gewiß nicht, lieber Leser, fürchte dich vor den unbekannten Untiefen der Ozeane" flüstert es uns da aus den Seiten von Frank Schätzings Der Schwarm entgegen. Über Jahrhunderte hinweg hat unsere Spezies dem Meer wertvolles Land abgerungen und seinen Artenreichtum systematisch dezimiert. Nun jedoch schlägt es präzise, intelligent und zielgenau zurück, trägt den Kampf um den Planeten in die vermeintliche Sicherheit der Zivilisation, entschlossen, den Planeten zurückzuerobern.
Um das Gegenteil - nämlich zu wenige Wasser - sorgt sich auch Jean Marc Ligny in seinem Thriller Aqua TM. In naher Zukunft, genauer im Jahr 2030 ist das globale Klima endgültig kollabiert, Tornados, Überschwemmungen und Dürreperioden sind keine Ausnahme mehr, demzufolge ist Trinkwasser zu einer wertvollen Handelsware geworden, um die ganze Kriege geführt werden. Jenes Szenario, vor dem heute bereits Jean Ziegler sehr eindringlich warnt, ist also eingetreten.
Weniger von den Urgewalten, als vielmehr von der erwähnten Wolfsnatur des Menschen handelt Die Flutwelle von Mikael Niemi. Als in Nordschweden ein Staudamm bricht, werden die Betroffenen auf den nackten Überlebensinstinkt reduziert und handelt befreit von allem anerzogenen zivilisatorischem Ornat. Da ist die auf Sinnsuche befindliche Malerin, die über sich selbst hinaus wächst, als sie einen Ertrinkenden rettet, da ist der Mitarbeiter des Kraftwerkskonzerns, der verzweifelt all jene, die ihn als Schuldigen identifizieren könnten, umbringt, da ist der Autonarr, der zu spät begreift, daß seine gepanzerte Limousine keinen Schutz mehr bietet. Der Autor arbeitet mit intensiven eindringlichen
Bildern und läßt, als die Flut wieder abklingt, wie einen abgebrochenen Ast die Frage vorbeitreiben, ob wir uns letztendlich nicht vor uns selbst ängstigen müssen.
Liebe Leserin, lieber Leser, gewiß kann und soll ein solcher Streifzug durch die Welt beängstigender Geschichten, wie er in dieser und den beiden letzten Ausgaben der Kolumne "Aufgelesen" niemals auch nur ansatzweise vollständig sein. Vielmehr besteht die Absicht darin, die Lust am ungefährlichen Tanz über dem Abgrund zu wecken.
Angst ist ein ebenso nützliches wie potentiell schädliches Gefühl. Sie warnt uns vor Gefahren, kann im Extremfall jedoch auch das Leben drastisch einschränken. Zwischen zwei Buchdeckel gebannt, wird sie für uns greifbar, erlaubt es uns, sie dosiert wirken zu lassen, schult uns wie ein Simulator den verantwortungsvollen Umgang mit ihr.
Aber seien wir uns ehrlich, sich lustvoll dem Nervenkitzel hinzugeben, das ist doch das wahre Lesen, oder?
Freudiges Weiterlesen!
© Wolfgang Brandner
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Labels: Aufgelesen, Kolumne by Wolfgang