Aufgelesen.
Wolfgangs Zeit- und Buchgedanken #1
Liebe Leserin, lieber Leser,
ich erlaube mir diese Anrede, weil Du nicht hier gelandet wärst, würde uns
nicht die Leidenschaft für's Gedruckte verbinden. Und damit ist Dir sicher jene
kribbelnde Freude bekannt, die einen mit einem lange erwarteten Buch überkommt,
in das man all seine Hoffnungen und Erwartungen legt. Vielleicht ist es das neue
Werk des Lieblingsautors, vielleicht ist es ein gänzlich neuer Teilnehmer im
großen Geschichtenspiel, vielleicht die Fortsetzung der Lieblingsserie, die endlich
noch unbeantwortete Fragen beantworten soll. Mit glasigen Augen und
schwitzenden Händen nimmt man das Paket entgegen, und plötzlich wird alles
andere zur Nebensache.
In meinem Fall war es kürzlich Kai Meyers Fortsetzung von "Die Seiten der Welt", seines Jugendbucherfolges aus 2014, das pünktlich zum Erscheinungstermin als Hörbuch bei mir eintraf. Wenn auch in diesem Werk jedes Wort mit den Augen aufgesogen werden, jedes Umblättergeräusch als Musik verstanden werden will, so schätze ich doch die vertraute Vorlesestimme Simon Jägers. Wenn er in der Gemütlichkeit eines alten Ledermöbels den bewusst leicht angestaubten Erzählduktus des Autors nachvollzieht und gerade auch Nebenfiguren wie einem Südstaatenrevolverhelden oder dem bereits bekannten Leselampe-Ohrensessel-Gespanns Individualität verleiht, fühlt sich das ein bisschen an, wie nach Hause zu kommen. Die Geschichte selbst kann man als bibliophile Coming of Age-Parabel verstehen: Eine Gruppe jugendlicher Rebellen lehnt sich gegen das erstarrte Establishment der Bücherstadt Libropolis auf, wobei der Hauptfigur eine Schlüsselrolle zukommt.
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Juni 2015 im Argon Verlag 2 MP3-CDs, 840 Minuten Ungekürzte Lesung von Simon Jäger |
Kai Meyer erschafft sich hier eine detailreich ausgestaltete Welt mit vielen
Anspielungen, eine hingebungsvolle Liebeserklärung an das Lesen, die der
Zielgruppe anschaulich demonstriert, welche Lust es bereiten kann, sich von
einer spannenden Geschichte einfangen zu lassen. Hier kommt die Magie aus den
Büchern, ihre besonderen Fähigkeiten erhalten die Protagonisten aus ihrer
Affinität zum Gedruckten.
In vielen Variationen gehört, immer wieder bewährt verschreibt sich der Autor
einem Genre, das aufwachsenden Menschen, die gerade dabei sind, sich selbst und
ihr Verhältnis zu anderen zu entdecken, ihre Rolle in der Welt zu definieren,
den Rücken stärken soll. Der kultivierte Aufstand wird zelebriert, mit einer
kreativen Explosion eigener Ideen eine neue Ordnung hergestellt. Jede Generation
braucht ihre Helden, die für sie Stellvertreterkämpfe austragen, für sie Revolutionen
bestreiten.
Es ist das Privileg der Jugend, gegen ihre Vorgängergeneration
aufzubegehren, ebenso wie es deren Vorrecht ist, wie bereits Sokrates im alten Griechenland,
sich über die Manieren- und Respektlosigkeit der Nachkommenschaft zu
echauffieren. Den heutigen Teenagern wünsche ich Furia Salamandra Fairfax als
Identifikationsfigur, in meinem Fall waren es andere. Gerade zwischen den
Seiten der Welt denke ich zugleich wehmütig und dankbar an Bastian Balthasar
Bux, Old Shatterhand, Frodo Beutlin, Gretchen Sackmeier und die Fünf Freunde
zurück, mit denen ich durch freudige Kindertage gelaufen bin, bei denen ich in
traurigen Momenten Trost gefunden habe.
Liebe Leserin, lieber Leser, welche Figuren sind Dir ans Herz gewachsen, welche Leseerlebnisse sind Dir in lieber Erinnerung geblieben?
Wenn auch "Die Seiten der Welt" als Jugendbuch konzipiert ist, ein Abstecher
nach Libropolis ist ein bereichernder Umweg.
Freudiges Weiterlesen!
© Wolfgang Brandner
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Labels: Aufgelesen, Kolumne by Wolfgang