Da eine Rezension des Romans ohne Vorwegnahme einzelner
Handlungselemente nur schwer möglich ist, sei an dieser Stelle eine SPOILERWARNUNG
ausgesprochen.
Er ist dein Beschützer. Er ist dein Erlöser. Und er will
dich vernichten. Ich habe mich verliebt, und ich bin ihr gefolgt. Sie sah mich
nicht. Sie wusste nicht einmal von meiner Existenz. Jetzt bin ich die
wichtigste Figur in Marnies Leben, doch sie weiß es noch nicht. Ich bin der,
der aufpasst. Seit ihr Mann Daniel vor einem Jahr spurlos verschwand, liegt ein
schwarzer Schatten über dem Leben von Marnie Logan. Aber sie leidet nicht nur
unter der quälenden Ungewissheit über sein Schicksal - immer wieder übermannen
sie plötzlich Ängste, immer wieder beschleicht sie das Gefühl, beobachtet zu
werden. Deshalb sucht sie auch Hilfe bei dem Psychologen Joe O’Loughlin, der
aber schnell den Verdacht hat, dass Marnie ihm etwas verschweigt. Als eines
Tages überraschend ein Album mit Fotos alter Freunde und Bekannter entdeckt
wird, das Daniel seiner Frau zum Geburtstag schenken wollte, ist Marnie
zunächst gerührt. Doch dann kommt die grausame Geschichte dahinter ans
Tageslicht, die auch Joe zutiefst erschüttert
Michael Robotham
Der gebürtige Australier Michael Robotham war in London als
Journalist für verschiedene Zeitungen tätig, bevor er als Ghostwriter
Biographien beispielsweise für Geri Halliwell verfaßte. Schließlich trat er mit
"Adrenalin", seinem ersten unter eigenem Namen veröffentlichen Roman
aus dem Schatten seiner prominenten Klienten und markierte damit den Beginn
einer neuen Serie. Mit Joseph O'Loughlin, einem unter Parkinson leidenden
Psychiater und Vincent Ruiz, einem mürrischen Ex-Polizisten bereichert Robotham
die Krimiszene um ein kaum an Originalität zu überbietendes Duo.
Grob in zwei Abschnitte unterteilt, gliedert sich der Roman
in 64 Kapitel, in denen die Handlung in wechselnder Perspektive, jeweils aus
Sicht einzelner Figuren entwickelt wird. Als Erzähltempus funigiert dabei das
ungewohnte und zunächst sperrig wirkende Präsens, für Rückblenden wird das
Präteritum genutzt. Diese Wahl relativiert dabei das fiktionale Wesens des
Romans und rückt ihn ein Stück in Richtung des Faktischen, läßt ihn schärfer,
realistischer erscheinen.
Der perspektivische Schwerpunkt liegt auf dem Opfer des
gegenwärtigen Falles, Marnie Logan, sowie natürlich Robothams Serienhelden, dem
Psychiater Joseph O'Loughlin und dem ehemaligen Polizisten Vincent Ruiz. Diese
Technik wird gleichzeitig auch dazu genutzt, inhaltliche Akzente zu setzen. So
wird zunächst relativ viel Erzählzeit dafür aufgewendet, Marnies
Lebenssituation zu schildern, in der zugleich auch ein Hauch Sozialkritik
verpackt ist, bevor erst O'Loughlin und Ruiz in die Handlung eingebunden werden.
Die Gleichstellung dieser beiden Konstanten des Robotham'schen Kosmos mit dem
Opfer in der Erzählhierarchie unterstützt als Stilmittel auch ihre aktiven
Rollen auf inhaltlicher Ebene.
Hier erweist sich außerdem einmal mehr eine Besonderheit der
Reihe von Michael Robotham: Durch die Berufe seiner beiden Serienhelden -
Psychiater und Ex-Polizist - sind sie von der unmittelbaren Pflicht zur
Aufklärung des Falles entbunden. Es ist nicht ihre vordringliche Aufgabe,
Marnies Problem zu lösen, vielmehr erweisen sie ihr einen Freundschaftsdienst.
Anklänge an TV-Serien der 80er Jahre wie "A-Team" oder
"McGyver" sind wohl erwünscht. Damit verlassen die beiden zugleich
auch die neutrale Stellung des Berufsermittlers, können damit auch leichter im
gesetzlichen Graubereich agieren, erhalten Parteistellung im Roman. Wie eine
literarische Umsetzung der Heisenberg'schen Unschärferelation beobachten sie
nicht defensiv, sondern werden zum integralen Teil der Handlung, ohne den
dieser einen anderen Verlauf nehmen würde. Beispielsweise übt Joe als Marnies
Psychiater einen wesentlichen Einfluß auf ihre Persönlichkeit aus, womit er
unfreiwillig zum Rivalen des Antagonisten wird. Hinzu kommt, daß Joe an der
Parkinson'schen Krankheit leidet, die ihm eine Fragilität verleiht, die spannungsgeladene
Situationen oft noch verschärft.
Ein unverkennbarer Schwerpunkt des Romans liegt auf dem
Suchen, Finden, Verlieren und Wiederfinden der eigenen Identität. Wer sich
einen hauptberuflichen Psychiater als Protagonisten wählt, kommt wohl nur schwer
an diesem Themenkomplex vorbei, in der Tat zieht es sich wie ein roter Faden
durch die O'Loughlin/Ruiz-Serie.
Wodurch wird die eigene Identität bestimmt?
Inwieweit prägen die Erinnerungen die Persönlichkeit?
Mit dieser Frage regt der Autor seine Leser besonders zum
Grübeln an. Marnie entdeckt, daß ihr verschwundener Ehemann Daniel ihr ein
Geburtstagsgeschenk durch die Ergründung der verschiedenen Aspekte ihreres
Wesens bereiten wollte, indem er mit prägenden Menschen auf ihrem Lebensweg
Gespräche führte. Das Postulat, das hinter diesem Vorhaben steckt, ist somit,
daß die Persönlichkeit immer nur als Momentaufnahme existiert, einer ständigen
Entwicklung unterworfen ist. Jede Begegnung, jedes Erlebnis beeinflußt uns,
gräbt sich ins Gedächtnis, initiiert einen Lernprozeß.
Existiert außerdem analog zu jenem nach Nahrung ein
menschliches Urbedürfnis nach dem Wissen um das Ich?
Zwischen den Zeilen leuchten die genannten Fragen immer
wieder aus dem Roman hervor und manifestieren sich insbesondere in einer Figur,
die als Chamäleon durch die Welt streift. Süchtig nach Geschichten, findet er
in Kino und Theater seine Glücksmomente, bevor er das Leben anderer Menschen
als die ultimative Form eines interaktiven Films für sich entdeckt. Dem
Shakespeare-Zitat "Die ganze Welt ist Bühne" folgend, empfindet er
sich als unsichtbarer Regisseur, degradiert sein Opfer somit zum Objekt, das er
meint, bewußt lenken zu können. Wie ein Vampir seinen Blutdurst, so kann er
sein Bedürfnis nach Identität an der passiven Teilnahme am Leben anderer
Menschen stillen. Der Originaltitel des Romans "Watching You" vermag
seinen Inhalt hier wesentlich präziser auf einen Punkt zu verdichten als die
deutsche Version.
Eine andere Facette der Fragestellung um die Konstitution
des eigenen Bewußtseins wird anhand des Krankheitsbildes einer
Persönlichkeitsstörung aufgegriffen. Analog zu bewährten Geschichten wie etwa
dem Film "Zwielicht" mit Edward Norton oder Christophe Granges Roman
"Der Ursprung des Bösen" wird das Faust-Zitat "Zwei Seelen wohnen,
ach, in meiner Brust" konsequent weitergedacht: Gibt es so etwas wie eine
dominante, eine eigentliche Persönlichkeit? Wenn ja, welche ist sie? Und wollen
wir die andere(n) auch kennenlernen? Indem der Autor anhand dieser Pathologie
die Identität einer Figur infrage stellt, läßt er den Leser damit gleichzeitig
an der Erzählung als ganzes zweifeln. Schließlich ist es genau diese Situation
der Unsicherheit, des Zweifels, die sem Roman seine unvergleichliche Spannung
verleiht.
Michael Robotham inszeniert ein verwirrend-packendes Stück,
das seine große Spannung ganz dem Genre Psychothriller entsprechend, aus dem
lustvollen Spiel mit Identität und Bewußtsein bezieht.
© Rezension: 2014, Wolfgang Brandner
ISBN: 9783442313174
Flexibler Einband: 448 Seiten
Labels: Beitrag von Wolfgang, Goldmann Verlag, Rezension, Thriller