Rezension || Engelsschmerz | Anna Martens



Ein Blick in die Buchbeschreibung

Jule ist spurlos verschwunden. Die Studentin ist nicht verreist, nicht durchgebrannt. Sie ist in Gefahr! Davon ist ihre Mutter überzeugt, die alarmiert nach München reist und die Wohnung ihrer Tochter verwaist vorfindet. Doch die Polizei nimmt ihre Bedenken nicht ernst - außer Kommissarin Annette Kirchgessner, die schon immer einen Riecher für besondere Fälle hatte. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Georg "Gigi" Gruber ermittelt sie auf eigene Faust. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt. Werden sie Jule rechtzeitig finden?

Anna Martens

Als Kind stand Anna Martens am liebsten in der Dorfkneipe ihrer Großmutter hinter dem Tresen, um den kleinen und großen Geschichten zu lauschen, die das Leben schreibt. Studium und Beruf führten sie zunächst in eine völlig andere berufliche Richtung, aber das Interesse an Menschen und ihren Erzählungen blieb. Mit vierzig erfüllte sich Anna Martens einen langgehegten Wunsch, verfasste ihre erste Shortstory und entschloss sich spontan beruflich umzusatteln. Seither schreibt die Autorin, die in Süddeutschland und Nordholland lebt, Krimis und Psychothriller unter verschiedenen Namen.   (Bild und Text: Midnight/Ullstein Verlag) 

Gedanken des Rezensenten


Der Roman ist in 66 Kapitel gegliedert, in denen das Geschehen auktorial aus der Sicht jeweils einer Person erzählt wird. Einerseits begleitet der Leser Jules Mutter Ulrike und Kommissarin Annette Kirchgessner auf der Suche nach der Vermissten, andererseits - und hier liegt das Gewicht des Romans - nimmt man Anteil an Jules Schicksal. Jedes der Kapitel ist mit der Angabe eines Tagesdatums versehen, sodass der Handlungszeitraum von 19. Juli 2014 bis 23. September 2014 genau nachvollzogen werden kann. Die beiden Stränge - Jules Verbleib und die Suche nach ihr - verlaufen diachron, erst zum obligaten Finale erfolgt die Synchronisierung. Die Datumsangaben fungieren zu den Kapitelgrenzen als zusätzliche Markierungen für Perspektivenwechsel. Diese wiederum ermöglichen somit die Überbrückung der Zeiträume zwischen Kapiteln desselben Stranges. Somit bildet die durchdachte Struktur ein stabiles Gerüst für die Handlung des Romans.

Dass die Autorin sich intensiv mit dem Geschehen um Natascha Kampusch beschäftigt hat, das offensichtlich ihrem Werk als Vorbild diente, bestätigt sie im Nachwort, auch im Text selbst wird explizit darauf Bezug genommen. Der Fall der jungen Wienerin, die im Kindesalter entführt und über acht Jahre gefangen gehalten worden war, hatte für internationales Aufsehen gesorgt. Die Schilderung des Martyriums der Hauptfigur erfährt ein erschreckend eindringliches Maß an Authentizität. Langsam nur begreift die junge Studentin in "Engelsschmerz" den Ernst ihrer Lage, dass mit dem Entzug der elementaren Freiheit ihr Leben einer unumkehrbaren Wendung unterworfen wurde. Das allmähliche Begreifen mündet in eine emotionale Achterbahnfahrt aus verzweifelter Hoffnung und abgrundtiefer Resignation, zwischen Aufbegehren und Zusammenbrechen. Der Willkür eines Fremden ausgeliefert, durchlebt das Dilemma, ob sie sich ihm ergeben oder gegen ihn kämpfen soll.
Folgende exemplarische Passagen aus dem Roman sind bezeichnend für die Ausnahmesituation, in der sich Jule findet:
"Ihre Tage erhielten langsam eine Struktur. Sie schlief, sie aß, sei trainierte. Dadurch wurde ihre Lage erträglicher
 
"Jule hatte auch begonnen, mit sich selbst zu sprechen. [...] Sie erzählte Märchen nach, Geschichten, die sie mit einer besseren Zeit verband."
"Ihr Hunger war mittlerweile unbändig geworden. Sie träumte nur noch von Essen und glaubte manchmal schon, etwas auf der Zunge zu schmecken [...] wenn sie nur intensiv genug daran dachte."

In der gelungenen ausführlichen Schilderung der Qualen der Entführten erinnert "Engelsschmerz" streckenweise an Jussi Alder-Olsens "Erbarmen" und Chevy Stevens' "Still Missing". Eine größere Nähe ist jedoch zu letzterem Werk festzustellen, da Jule nicht wie im Buch des Dänen ein bloßes Objekt verbleibt, sondern sich durch Eigeninitiative und mentale Stärke langsam aus dieser Rolle heraus zum handelnden Subjekt arbeitet.

Wiewohl die Identität und die wahre Motivation des Peinigers diffus und wenig nachvollziehbar bleiben, so gelingt es der Autorin doch exzellent, sein animalisches Wesen darzustellen. Der Eindruck, es handle sich um ein Tier in Menschengestalt, wird auf sprachlicher Ebene dadurch gekennzeichnet, dass seine Selbstgespräche ausschließlich in zweiter Person stattfinden. Es heißt also beispielsweise "Du bist ein Indianer" anstelle von "Er war ein Indianer", als hätte der Entführer in seiner persönlichen Entwicklung die Ausbildung eines Ich-Bewusstseins nicht erreicht. Unfähig also, sich selbst als eigene Person wahrzunehmen, wirkt er rein triebgesteuert, von Instinkten durch sein Leben gehetzt. Jedoch werden die unzähligen Fragen, die sich an dieser Stelle über seine Vergangenheit eröffnen, etwa nach seinen Eltern oder der Rolle der Behörden, nicht beantwortet, sodass diese Figur als ein stereotypes Monstrum verbleibt.

Als eine weitere handlungstragende Figur würde sich der Leser eigentlich Kommissarin Anette Kirchgessner erwarten. Diese erweist sich jedoch nicht als Stütze, sondern in ihrem Entwurf als Schwachstelle, was dem Fundament der Geschichte einiges an Stabilität kostet. Der Leser begegnet in ihr der aus der modernen Kriminalliteratur hinlänglich bekannten einsamen, vom Leben gezeichneten Wölfin, die sich in der zotigen Atmosphäre der Polizeiwache ihren Platz täglich neu erkämpfen muss. Obwohl sie mit den Ermittlungen in einem - sich als völlig zusammenhanglos herausstellenden Mordfall - betraut ist, steht es ihr scheinbar frei, sich spontan der verschwundenen Jule zu widmen. Ausschlaggebend dafür ist das Mitgefühl mit deren besorgter Mutter Ulrike, die naturgemäß alle Überzeugungskraft aufbietet, um die Kommissarin auf ihre Seit zu ziehen.
"Aber Anette glaubte der Mutter - und deren Instinkten", heißt es da im Text. Dass Kirchgessner nach zehn Jahren im aktiven Polizeidienst keine Mechanismen entwickelt hat, sich emotional gegen die Arbeit abzuschotten, wirkt nicht sonderlich glaubwürdig, um nicht zu sagen, unprofessionell. Daß sie zudem den obsessiven Nachbarn der Verschwundenen nur aufgrund dessen Unbeholfenheit kategorisch als Verdächtigen ausschließt, lässt sie zudem als ausgesprochen blauäugig erscheinen und an den beruflichen Erfolgen in ihrer Vergangenheit zweifeln, auf die gerne verwiesen wird.

Dazu passt es auch, dass jegliche Form von Emotion als ihr Extrem dargestellt wird. Nuancen werden kaum geschildert, zwischen "himmelhoch jauchzend" und "zu Tode betrübt", wie es bei Goethe heißt, bleibt kaum Platz für Zwischentöne. Jules Nachbar versinkt etwa schluchzend in den Armen der Kommissarin, als er sich dieser öffnet. Der Ex-Freund der Verschwundenen schildert freimütig seine sexuellen Phantasien, wodurch die Geschichte wie in einen Hormonnebel gehüllt wirkt. Als zu Beginn Jules Mailkontakt mit ihrem späteren Peiniger skizziert wird, erinnert die Auswahl des Opfers und dessen Reaktion auf die Avancen zunächst an Jilliane Hoffmans "Mädchenfänger". Allerdings steht hier eine Studentin im Zentrum der Handlung, die anders als die Teenagerinnen im Roman der Amerikanerin, der Pubertät bereits entwachsen sein sollte. Wo allerdings besonders ausgeprägte Gefühlsdarstellungen die Ausnahmesituation der Gefangenschaft dem Leser schmerzend näherbringen, so sind sie doch im Alltag der Figuren eher unangebracht.

Ein letzter Wermutstropfen stellt schließlich das Ende des Romans dar, das zu abrupt eintritt und zu viele Fragen über die grundlegenden Motivationen der Figuren und deren weiteren Verbleib unbeantwortet lässt.

Persönliches Fazit


Der Gesamteindruck ist ein ambivalenter: Während die Passagen aus der Sicht des Opfers das Martyrium der Gefangenschaft dem Leser bis tief unter die Haut brennen, trüben skizzenhafte Figuren und wenig nuancierte Emotionen das Lesevergnügen. 

© Rezension: 2014, Wolfgang Brandner 




Engelsschmerz - Anna Martens - Midnight by Ullstein

eBook, ca. 320 Seiten
Erschienen im November 2014
ISBN 978-3-95819-017-7

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